Die Stadt der Zukunft

Schaffhausen in 50 Jahren
Hans-Georg Bächtold, Geschäftsführer SIA
Ich wurde eingeladen, einen Blick in die Zukunft der Stadt Schaffhausen in 50 Jahren zu werfen. Bevor ich das tun werde, mache ich eine Rückschau, lege dann die zentralen und grossen Herausforderungen der Gegenwart dar und zeige Tendenzen in der Stadtentwicklung auf.
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Woher?
Letzthin bin ich meinen Kindergartenweg gewandert – von der Rheinhalde nach Buchthalen. Ich stellte fest: es hat sich in den vergangenen 55 Jahren wenig geändert. Die meisten Häuser stehen noch. Sie sind schöner geworden. Der Beck im Dorf ist verschwunden. Die Strassen erscheinen breiter und bis zum Randstein perfekt unterhalten. Aber meine Schleichwege sind noch da und heissen immer noch Gässchen.
Die Urbanisierung der Schweiz hat sich langsam vollzogen – auf eine helvetische Art – geprägt von der kleinteiligen Gemeindestruktur und von der dezentralen Industrialisierung. «Die ganze Schweiz ist wie eine grosse Stadt, aufgeteilt in dreizehn Quartiere, von denen die einen in Tälern sind, die anderen auf Anhöhen und noch andere auf Bergen. (…) Man glaubt nicht mehr, Einöden zu durchqueren, wenn man Kirchtürme zwischen den Tannen findet, Viehherden auf den Felsen, Fabriken in den Abgründen, Werkstätten in den Bächen.» Ein Zitat von Jean-Jaques Rousseau, der 1712-1778 gelebt hat. Heute gibt es in der Schweiz drei Metropolitanräume und wenige grössere Städte. Zentrale Elemente der Entwicklung waren die Transformation der Innenstädte, der Umbau der Industriegebiete und das rasante Wachstum der Agglomerationen – insbesondere auch mit ausgedehnten Einfamilienhausquartieren. Massgebend war auch die Steigerung der Bruttogeschossfläche fürs Wohnen von 22 m2 in der Mitte des letzten Jahrhunderts auf heute gegen 50 m2 pro Person. Eine Umfrage in Zug belegt, dass die Entwicklung für über 60% der Menschen zu schnell gegangen ist.
Fazit: Gebäude und Infrastrukturen haben sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. Sie sind einem langsamen Wandel unterworfen, aufgrund der langen Planungs-, Entscheidungs- und Realisierungszeiträume in der Demokratie – mitgetragen vom Eigentumsverständnis – der Schweiz. Vor diesem Hintergrund komme ich zum Schluss, dass die Stadt Schaffhausen in 50 Jahren ähnlich wie heute aussehen wird. Ändern werden sich die Lebensformen, die Lebensgewohnheiten und die Raumnutzung der Menschen.
 
Was ist?
Das Schweizer Volk sagte am 3. März 2013 mit über 60% der Stimmen Ja zur Revision des Raumplanungsgesetzes. Das bedeutete eine Strategie der Innenentwicklung. Das ist die Herausforderung, und sie stellt neue Fragen. Wie sollen die Innenentwicklung, das Wachstum der Menschen, die Mobilität, die Energiewende und der Klimawandel in den bestehenden Siedlungen bewältigt werden? Erneuerung, Umbau oder Ersatzneubau? Es hat in der Vergangenheit immer wieder Sprünge und disruptive Entwicklungen gegeben. Erfindungen, welche das Leben bequemer und einfacher machen, haben sich stets durchgesetzt. So wird es sich z. B. auch mit selbstfahrenden Autos verhalten. Sie sind sicherer, bequemer und erst noch günstiger. Vollautomatisch gesteuerte Fahrzeuge können ihre Passagiere vor deren Haustüre abholen. Daher werden sich Verkehrssysteme, welche aus einer Vielzahl solcher vollautomatisierter Wägelchen bestehen, gegen Bus- und Tramsysteme langfristig durchsetzen.
Aus meiner Sicht gilt es, eine Strategie für die Bearbeitung dieser möglichen Änderungsprozesse zu entwickeln. Zielführende Ansätze sind das Planen im grossen Massstab, Testplanungen, Wettbewerbe und Ideenkonkurrenzen, mehr Baukultur und höhere Qualität. M.E. gehören dazu weniger Technik, mehr Heimat, Urbanität in den Städten bis an den Stadtrand, bessere Kommunikation, mehr Dialog mit verständlicher Sprache. Das Projekt Fulachtal erfüllt genau diese Ansprüche.
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Wohin?
Die erste Herausforderung ist, dass die Menschheit wächst. Und das in schnellem Tempo. Die UN geht von einer weltweiten Bevölkerungszahl bis 2050 von rund 9.5 Milliarden aus. Und die Menschen bewegen sich in immer grösseren Mengen von Orten ohne Zukunft zu Orten mit einer Zukunft. Deshalb wächst auch die Schweiz sehr schnell. Ende Mai hat das Bundesamt für Statistik (BFS) mit seiner neusten Prognose für das Bevölkerungswachstum bekanntgegeben, dass bis 2050 von einer 10-Millionen-Schweiz auszugehen ist. Das bedeutet eine Wachstumsrate von 1.2%. Im Jahr 2000 wuchs die Schweizer Bevölkerung noch um 0.5% und bis 2006 jährlich um rund 0.7%. Muss uns eine 10 Millionen Schweiz Sorge bereiten? Ich glaube nicht. Richtig gesteuert und gestaltet nimmt die Lebensqualität vielleicht sogar noch zu.
Das Leben digitalisiert sich, gleichfalls in rasendem Tempo. Mit der voranschreitenden Digitalisierung verändern sich unsere Lebensgewohnheiten mit den entsprechenden Auswirkungen auf unsere Lebensräume. Softwarelösungen bieten uns schon heute Unterstützung bei allem möglichen und werden unsere Form des Zusammenlebens und damit auch unsere Städte weiter verändern. Sie lassen uns am Telefon Bankgeschäfte abwickeln, das Billet lösen, das Wetter überprüfen und live das aktuellste Fussballspiel mitverfolgen. Und mit WhatsApp, Facetime, Twitter, Instagramm, Facebook und so weiter wandert der soziale Austausch mehr und mehr ins Internet. Ob gut oder nicht, sei hier einmal dahingestellt. Aber wenn ich am Morgen die Menschen im Tram beobachte und sehe, wie 80% der Mitfahrenden mit ihrem Handy beschäftigt sind, dann ist die Digitalisierung einfach eine Realität. Apps gestalten unaufhaltsam unseren Alltag. Und mit viel Euphorie entwickelt sich auch in der Arbeitswelt die Digitalisierung. Unsere Arbeitsweise soll und wird sich zwangsläufig immer mit den Technologien, die uns zur Verfügung stehen, mitentwickeln.
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Die Ressourcen Wasser und Boden werden knapper und das Klima verändert sich. Im Durchschnitt ist die Globaltemperatur seit 1900 um 0.85ºC gestiegen. Wissenschaft und Politik haben die Herausforderungen erkannt. So meinte US-Präsident Obama letzthin: «Wer heute noch bestreitet, dass der Mensch nicht zum Klimawandel beiträgt ist ein Zyniker.»
Da ich selber nicht Architekt bin und deshalb auch keine eigenen Bilder dieser möglichen Entwicklungsstränge zur Verfügung habe, und um genau so wenig mit Bildern von anderen Städtebauvisionen formal vorzugreifen, habe ich mich entschlossen, meine Ausführungen mit einer bereits 33-jährigen Vision zu bebildern. Der Vision von Ridley Scott in seinem filmischem Meisterwerk Blade Runner. Ridley Scott zeichnete 1982 das Bild eines düsteren Los Angeles von 2019, eines Stadtmolochs der aufgrund der Klimaveränderung durchtränkt ist von Dauerregen. So regnerisch, düster, dekadent und schmutzig ist das heutig Los Angeles zum Glück nicht und wird es auch nie sein. Auch will ich unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, dass dieses Los Angeles die Stadt der Zukunft ist. Und trotzdem hat Ridley Scott in seiner eindrücklichen Vision in erstaunlicher Art und Weise einiges an Entwicklungen vorweggenommen, was auch noch für die Stadt der Zukunft gelten könnte.
Ich bin überzeugt, dass sich die Stadt als Lebensort durchsetzen wird – auch in der Schweiz. Überall auf der Welt ziehen die Metropolen die Menschen an. Für mich ist auch klar, warum. Das Leben in der Stadt hat ganz einfach zu viele Vorteile. Für die Wirtschaft ist sie Dreh- und Angelpunkt weil sie …
… eine wertvolle Brutstätte der Kreativität, von Ideen und von Innovation ist
… weil sie hervorragend erschlossen und weltweit vernetzt ist
… weil sie ein grosses Reservoir an Arbeitskräften bietet
Für die Menschen ist sie als Wohnort attraktiv weil …
… sie die grösste Dichte an Arbeitsplätzen bietet
… sie die grösste Dichte an Einkaufsmöglichkeiten bietet und das dichteste Angebot an Kultur, Sport- und Freizeitanlagen hat
… und vor allem, weil sie das alles in kürzester Distanz bietet.
Aus umwelttechnischer Sicht ist sie viel sinnvoller weil…
… Energie- und Ressourcenverbrauch pro m2 Wohn- und Arbeitsfläche abnimmt
… weil der Aufwand für die Infrastruktur (Verkehr, Wasser-, Strom-, Kommunikation) sinkt.
In der Stadt der Zukunft werden sich auch noch viel mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft mischen. Und in genau dieser Vielfalt wird die Stadt der Zukunft ihre Identität finden. Auch das sah Ridley Scott bereits voraus. Im Los Angeles von 2019 mischen sich hunderte von verschiedenen Ethnien. Und um dieses Nebeneinander einer Vielzahl von Menschen in Sachen Infrastruktur, Energieversorgung und damit auch Kosten möglichst optimal zu gestalten, wird sich die Stadt der Zukunft in die Höhe entwickeln. Ich meine damit die Entwicklung des städtischen Lebens in die Vertikale. Das heisst zum Beispiel:
…..im EG: Einkaufsmöglichkeiten und Gastronomie
…..im 1. bis 14 OG: Wohnen
…..im 15. OG: Museum
…..im 16. OG: Schule
…. im 17. OG: Altersresidenz
…. im 18. bis 30. OG: Arbeiten und Wohnen
…..und im 31. OG: Weitere Einkaufsmöglichkeit
Und schliesslich beginnt die Stadt auch sich auf oberen Ebenen zu verbinden und in diesem Sinne Strassen und Plätze, Parks – weitere Ebenen des städtischen Lebens zu entwickeln. Vielleicht wird damit auch die Gentrifizierung zur Vertikalisierung. Oder genauer: Die Einkommensunterschiede führen in der Stadt der Zukunft nicht mehr zu einer Verdrängung der Einkommensschwachen in die Peripherie, sondern – wie von Ridley Scott vorausgesehen – zur Bewegung der Einkommensstarken in die oberen Geschosse. Es bilden sich keine Quartiere mehr von Reichen, sondern Geschosse. Und in der Stadt der Zukunft müssten die Einkommensschwachen dann nicht auf die Qualitäten der Zentrumslage und auf alle damit einhergehenden Vorteile verzichten. Mit den Menschen werden sich auch verschiedenste Produktionsbranchen und vielleicht sogar die Landwirtschaft wieder in die Stadt zurück begeben.
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Wie diese Entwicklung die Baustruktur unserer Städte und deren räumliche Textur verändern wird, fällt mir sehr schwer zu sagen. Sicher ist, dass die digitale Urbanisierung auf den physischen Raum trifft und, dass sich unser Zusammenleben und mit diesem auch die Stadt verändern wird. Verändern wird die Digitalisierung unseres Lebens insbesondere auch die Mobilität. Durch alle Strassen der Stadt der Zukunft bewegt sich ein immerwährender Strom von autonom gesteuerten Elektro-Autos, die ich wie einen horizontal fliessenden Auto-Paternoster überall und jederzeit besteigen, eine gewisses Strecke machen und dann wieder verlassen kann. Die Effizienz des Verkehrs wird enorm gesteigert, der CO2 Ausstoss minimiert, die Sicherheit erhöht – das Privatfahrzeug unnötig.
Ich fasse die erkannten Tendenzen und meine Perspektiven zusammen. Die Stadt der Zukunft wird:
… der Lebensort sein
… sich in die Vertikale entwickeln
… ethnisch globalisiert sein und daraus ihre eigene Identität ableiten
… der Produktionsstandort sein
… und wird in hohem Masse digitalisiert sein.
Das alles nun so und in vernünftigen Schritten städtebaulich und architektonisch auszuformulieren, dass es als Lebensraum attraktiv – und bitte nicht so wie das Blade-Runner-Los Angeles wird -, ist nun Aufgabe aller am Bauwerk Mitwirkenden.
 
Norbert Röttgen, Bundestagsabgeordneter und bis 2012 Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in Deutschland, brachte es in seiner Festrede zur SIA-Auszeichnung «Umsicht 2013» auf den Punkt. Er bezeichnete die vor uns liegende zukunftsfähige Umgestaltung unserer Lebensräume treffend als «Generationenprojekt». Ein Projekt, das von der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik alles abverlangen wird und mit dem sich, so Norbert Röttgen weiter, die Schweiz, Deutschland und viele weitere Länder auf den Weg in eine andere Welt machen würden. Und in dieser Welt würden unsere gesamte Lebensform, unsere Gesellschaft, sprich unsere Kultur, komplett anders aussehen.
Ich glaube, dass die Architektur und die Ingenieurbaukunst, die ja ihrer Natur nach generationenübergreifend sind, einen essentiellen, gerade auch kulturellen Beitrag dazu leisten müssen, Gesellschaften und deren Menschen vor Augen zu führen, dass es eine attraktive Zukunft gibt und dass es unser aller Aufgabe ist, diese zu gestalten. Ja, dass es noch dazu eine spannende, schöne und auch machbare Aufgabe ist. Mitnehmen auf diesen gestalterischen Weg müssen wir auch, dass es immer um den Lebensraum für Menschen geht und diese sich letztlich in den von uns gestalteten Städten wohl und zuhause fühlen sollen. Niemand sagte das je kürzer und treffender als William Shakespeare mit «What is the city but the people?» (Was ist die Stadt ausser den Menschen, die darin leben).
Und weil der Mensch im Mittelpunkt steht, müssen wir auch berücksichtigen, dass die Wertschätzung der Stadt ein immaterielles Gut ist, abgeleitet aus der Gesellschaft und ihren Individuen selber. Wie andere Werte ist sie deshalb stets im Wandel. Dass Mass der Wertschätzung beruht auf einem Konsens, der stets neu erarbeitet werden muss. Den entsprechenden Wertebildungsprozess in Gang zu halten, ist neben dem hochwertigen Planen, Bauen und Betreiben die zentrale Aufgabe aller am Bauwerk Mitwirkenden auf dem Weg zur Stadt der Zukunft.
Ich schliesse mit einem Zitat von Jean Fourastié, einem französischen Ökonomen, der im letzten Jahrhundert gelebt hat, das meine Überzeugung darlegt: „Die Zukunft wird so aussehen, wie wir sie gestalten“.
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