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Im Herbst 2016 besuchte ich die Architektur-Biennale in Venedig. Dabei überraschte mich zu Beginn des langen und dicht gefüllten Arsenale-Ausstellungsgebäudes ein Projekt mit unmittelbarem Schaffhauser-Bezug. Meine Überraschung wurde zudem noch gesteigert, als mich ein Architekt – wir kennen uns vom SCHARF – ansprach und aus meiner Vertiefung holte. Der frappante Bezug dieses Projekts zu Schaffhausen war ihm ebenso aufgefallen, sowie der sehr treffende Titel des mittels einer grossflächigen Computeranimation präsentierten Projekts.
PLANE DIE STADT, ENTDECKE DIE LANDSCHAFT
CARPINTEIRA FUSSGÄNGERBRÜCKE, Covilhã, Portugal (2009)
João Luis Carrilho da Graça, Architekt, Portugal
(la Biennale di Venezia 2015: Projektbeschrieb, Übersetzung aus dem Englischen)
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Ein Doppelspin definiert feinfühlig die lineare horizontale Form der Brücke, die sich etwa 220 m senkrecht über dem Tal erstreckt. Photography © fg+sg – fotografia de arquitectura

Das Aushandeln von generischer Infrastrukturlogik mit bestimmten lokalen Werten. Das Design von Infrastruktur gehorcht normalerweise der internen Logik von Effizienz, Widerstand und Wirtschaftlichkeit, die, abgesehen von kleinen Nuancen, dazu tendieren, für jede Anforderung und jeden Ort gleich zu sein. Mit fortschreitender Technologie wird die Durchlässigkeit und Anpassung der Infrastruktur an spezifische lokale Bedingungen reduziert: Je effizienter, desto globaler die Infrastruktur. Die Wertschätzung des Erbes (in diesem Fall Landschaft) unterliegt einem umgekehrten Regelwerk für den Bau der Infrastruktur. Es geht darum, Wurzeln zu schlagen und sich auf die spezifischen und weniger greifbaren Bedingungen des Ortes einzustellen, vielleicht sogar zu ignorieren und auf die Kriterien von Effizienz und Wirtschaftlichkeit zu verzichten. Gibt es zwischen diesen beiden gespannten Logiken Raum für einen kohärenten Betrieb? Dies ist Carrilho da Graças Kampf in Covilhã, Portugal. Wie kann eine Brücke – die Definition von Infrastruktur – zu einem Beitrag zur Landschaft werden, ohne Effizienz zu opfern? Die Kommission entstand aus einem gewöhnlichen Problem, einer Grundnotwendigkeit (Verbindung zweier Nachbarschaften), die aufgrund der spezifischen Bedingungen der Topographie technische Komplexität erlangte (eine bergige Stadt mit schwierigem Gelände). Auf den ersten Blick schien es nichts anderes als ein technisches Problem zu sein. Der Hintergrund für diese Operation ist jedoch ein Kontext mit fragmentiertem städtischem Wachstum, das zu einer Diskrepanz zwischen Zentrum und Peripherie einerseits und Stadt und Region andererseits geführt hat und Landschaft auf der anderen, letztlich die Identität des Ortes bedrohend.
In der Antwort von Carrilho da Graça folgt der Entwurfsprozess nicht ausschließlich den Gesetzen der Technik, obwohl sie nicht widersprochen oder ignoriert werden. An einem bestimmten Punkt verzweigt er sich vom rein linearen Prozess der Technik und macht einen Schritt zur totalen formalen Abstraktion und sogar zur Metaphysik. Ausgehend von einem «alltäglichen» Problem verfeinert er den Vorschlag bis zu einem Punkt, an dem er eine immaterielle Dimension annimmt und eine poetische Qualität erreicht. Er verwandelt eine gewöhnliche Handlung in eine dauerhafte Verbindung mit der Landschaft und stärkt die Identität des Ortes.
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Brückenpark Güterbahnhof: Erran Pan, Lukas Graf, Serena Lo Priore, Thorben Westerhuys. ETH Zürich, Entwurfstudio Professur für Architektur und Städtebau, Prof. Ir. Kees Christiaanse, Eirini Kasioumi, Michael Wagner 2015
Obwohl Schaffhausen – im Gegensatz zu Covilha – nicht am Hang situiert ist, werden Sie meinen ‚heimatlichen Bezug’ sicher leicht erkannt haben. Schaffhausen – die Altstadt, begrenzt durch vier Hügel und den Rhein, und durchzogen von drei Tälern – gliedert unsere Stadt deutlich in zwei Funktionsebenen: In der Stadt und in den Tälern ‚unten’ sind der Handel und die Arbeit – in den Quartieren und auf den Ebenen ‚oben’ wird gewohnt. Noch heute zeugen direkte Verbindungen (Stiegen) von den Wohnquartieren Breite, Geissberg, Niklausen, Emmersberg und den Fabriken in den Tälern und in der Stadt von den damaligen Funktionswegen der Schaffhauser Bevölkerung.
Was… wäre, wenn – der Zeit entsprechend – zukünftige Funktionswege ebenso direkt (Brücken) die durch die Täler getrennten Quartiere auf der oberen Funktionsebene verbinden würden?
Spruchreif und auch aktuell wieder in den Fokus gestellt, ist das Duraduct-Projekt übers und ins Mühlental. Anlässlich des Entwurfsstudios im Frühlingssemester 2015 an der ETH Zürich haben zudem Studierende und Dozenten des Lehrstuhls von Prof. Ir. Kees Christiaanse das Schaffhauser Fulachtal analysiert. Unter dem Titel ‚Schaffhausen weiterbauen’ -> Brückenschlag hat eine Gruppe angehender Architekten visionär auch die Querung des Fulachtales vorgeschlagen.

Heute kann jeder zu Fuss die Wege und Orte solch geeigneter Standorte abschreiten. Natürlich, typisch für Schaffhausen, immer die Stiegen hinab und wieder hinauf. Wie lange noch?

Für den Vorstand: Christian Wäckerlin, Präsident SCHARF
 
Links:
Carpinteira Fussgängerbrücke
carrilho da graca architectos_ Fussgängerbrücke