Leerstehende Knautschzonen: Chance Erdgeschoss

Bericht über die Generalversammlung des SCHARF 2018
Rund 50 Gäste nehmen jeweils Platz, essen, trinken, plaudern oder diskutieren scharf. Über Architektur, Gott und die Welt. Die lange Tafel ist das legendäre Herz der SCHARF-Generalversammlungen. Tische, Stühle, eine «Pop-up-Möblierung», die eigens für die GV-Abende aufgebaut wird. Diesmal im Erdgeschoss zum Weissen Wind, einem Altstadthaus an der Oberstadt 13. Der Raum, ein schmaler Schlauch, ist ein perfektes Ambiente für die lange Tafel. Doch was für einen Abend verzaubert, überzeugt offenbar als Geschäftsraum weniger. Wo lange Jahrzehnte die Papeterie Feurer schreibfreudige Stadtbewohnerinnen und -bewohner mit Nötigem und Schönem versorgte, herrscht nämlich seit einigen Monaten gähnende Leere.
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Dramatische Situation
Wer durch Schaffhausens Altstadt streift, realisiert: Solche Leerstände haben in erschreckendem Ausmass zugenommen. Abseits der belebtesten Achsen warten Dutzende früherer Ladenlokale auf neue Nutzer. Das Schaffhauser Architekturforum hat das Thema deshalb ganz oben auf seine Agenda gesetzt. «Die Situation ist dramatisch», sagt SCHARF-Präsident Christian Wäckerlin an der Generalversammlung. Das «schönste Einkaufszentrum der Region», wie die Schaffhauser Altstadt oft benannt wird, erodiert angesichts von Einkaufstourismus und Onlinehandel rasch. Was ist zu tun?
«Es ist menschlich, dass wir Veränderungen des Gewohnten nicht gern sehen», sagt Wäckerlin. «Doch Städte verändern sich laufend. Da ist Stillstand keine Lösung». Die Veränderungen auf Schaffhausens Parterre-Ebene haben jedoch weniger mit Bauen, als mit gesellschaftlichem Wandel zu tun. «Städte leben immer von der Wechselwirkung von öffentlichem Raum und privatem Lebensraum. Stadtentwicklung dreht sich um diese zwei Pole», erläutert Wäckerlin. Und in diesem Zusammenhang sind Geschäftsräume besonders interessant, denn sie sind Knautschzonen, wo sich öffentlicher und privater Raum verzahnen.
Pop-ups: Wegweisende Zeitfenster?
«200 Quadratmeter für Ihre Ideen & Träume»: Das Schild über dem Eingang der früheren Papeterie an der Oberstadt ist ein Aufruf gegen die Resignation. Doch wie entstehen neue Ideen, wie lassen Sie sich durchsetzen? Eine Möglichkeit dazu sind temporäre Zwischennutzungen, die wie Pop-ups auf dem Computerbildschirm aufspringen, die Benutzeroberfläche bedecken und wieder verschwinden.
Zwei Vertreter der Pop-up-Szene erzählten von Ihren Erfahrungen: Simon Vogel, der als Mitinitiator von Stars in Town und Bockalp den Herrenacker neu bespielt, sowie Patrick Schindler, der sich in der Pop-up-Gastronomie einen Namen gemacht hat. Bockalp vermengt heimwehselige bayerische Alpklischees wild mit welscher Fonduekultur. «Das zieht, denn die Leute wollen für ein paar Stunden abschalten und in einen Ort eintauchen, der eine Geschichte erzählt», sagt Vogel. Und warum, so Wäckerlin, wagt man sich nicht an ein zeit- und ortsgemässeres Implantat? „Es gibt Bestrebungen, künftig in diese Richtung zu gehen“, meinte Vogel. Das sei aber eine «wahnsinnige Knacknuss».
Patrick Schindler hat einen finanziell weniger risikoreichen Weg gewählt: Er betreibt Pop-up-Restaurants, hauptsächlich in Zürich. «Bei einer temporären Nutzung gelten weniger strenge Auflagen als sonst in der Gastronomie. So können wir Experimente wagen ohne grosse Investitionen». Beim jungen urbanen Publikum steigere das vorprogrammierte Ende dabei den Erlebnisfaktor.
Es geht um das Funktionieren des Stadtlebens
Wichtig für den Erlebnisfaktor ist laut Wäckerlin aber vor allem, wie man mit Lokalen und Plätzen umgeht. Richtungsweisend wirken Pop-ups nämlich dann, wenn sie dazu beitragen, dass das Stadtleben gut funktioniert. Städte müssen attraktive, identitätsstiftende Orte sein, die Menschen gern besuchen, wo sie auch leben und arbeiten wollen. Die Zunahme leerstehender Ladenlokale deutet in Schaffhausen in die Gegenrichtung. Trotzdem wurde bisher erst zaghaft über mögliche Lösungen diskutiert.
Eine davon ist die Idee von Vermittlungsplattformen, wie sie in Zürich bereits existieren und Anwendung finden: wie bei Partnervermittlungen werden Suchende aus beiden Lagern verkuppelt, d.h. Leerstand-Raumanbieter finden Pop-up-Aktivisten. Auch da braucht es „Kümmerer“ und den mutigen ersten Schritt zum Risiko.
Deshalb hat SCHARF einen breiten Diskurs zur Leerstandsproblematik in der Altstadt angestossen und fragt: Was war, was ist und was wäre, wenn… ? «Mit Pop-ups können wir Veränderungen anstossen, temporär aber auch verlangsamen. Das schafft Zeit zum Überlegen und Abwägen neuer Ideen, für Vernehmlassungs- und Planungsprozesse und für die Vermittlung des Neuen, das an die Stelle des Alten treten soll», sagt Wäckerlin. Zeit, die aber genutzt werden muss – von den Einwohnern, von Hausbesitzern, von den Stadtbehörden und der Politik.
Link: SCHARF-GV 2018