"Artgerechtes" Wohnen

Leben wir im optimalen Raum? Dieser Frage geht der österreichische Stadtplaner Reinhard Seiss in seinem Film nach. „Häuser für Menschen – Humaner Wohnbau in Österreich“ porträtiert vier nachhaltige Alternativen zum Wohnen im Einfamilienhaus. SCHARF hat Seiss’ Film im Kiwi gezeigt und mit dem Regisseur vor Ort darüber diskutiert.
bi1„Wir bewegen uns im Laufe unseres Lebens hauptsächlich im gebauten Raum“, meint SCHARF-Präsident Christian Wäckerlin zu den etwa 50 Anwesenden im Kino. Da sollten wir uns doch fragen, wie wir ein möglichst menschenwürdiges Wohnen für alle schaffen können. Aber: „Bei Tieren reden wir ständig von artgerechter Haltung. Doch beim Menschen spricht niemand darüber, wie er wohnen muss, damit er glücklich ist“, stellt Architekt Harry Glück im Film fest. Für 80% der ÖsterreicherInnen ist das Einfamilienhaus mit Garten immer noch der Wohntraum schlechthin, obwohl es weder sozial noch ökologisch Sinn macht. Stadtplaner Reinhard Seiss stellt die These auf, dass es so viele Einfamilienhäuser gibt, weil der aktuelle Wohnungsbau nicht gut genug ist. Er porträtiert in „Häuser für Menschen“ vier Alternativen dazu. Sie zeigen, dass man dabei auf nichts verzichten muss; im Gegenteil.
Als Einstieg zeigt SCHARF die zwischen 1957 und 1960 erbaute Pioniersiedlung Halen in Bern und die daran angelehnte Siedlung Gruben in Schaffhausen. Halen schaffte es erstmals, die Qualität vom Einfamilienhaus mit Garten auf ein verträgliches Mass zu schrumpfen und gleichzeitig Qualität für möglichst viele zu bieten. So wurde die Siedlung Vorbild für die österreichische Gartenstadt Puchenau, die Seiss’ Film porträtiert.
Eigene kleine Universen
Puchenau bei Linz ist das Lebenswerk von Architekt Roland Rainer. Mit seiner Vorstellung vom menschengerechten, ökologischen Wohnen prägte er Generationen von ArchitektInnen. Die verdichtete Flachbausiedlung an der Donau besteht aus fast 1000 Wohneinheiten für über 2000 Menschen. Ihren Bedürfnissen ist der Aufbau der einzelnen Wohnungen angepasst; für den Bau von Puchenau II hat man die BewohnerInnen explizit nach Verbesserungsvorschlägen gefragt. Es gibt einen Kindergarten, Apotheken, Läden, ein Pfarrzentrum. Und überall wachsen Pflanzen, nicht umsonst nennt sich Puchenau „Gartenstadt“. Rainer war der Ansicht, für den Menschen sei der direkte Bezug nach draussen äusserst wichtig. So sind zahlreiche der eingeschossigen Wohneinheiten Atriumhäuser – die Innenhöfe bilden dabei ein eigenes, kleines Universum. Teiche, Kakteen, Bäume; in den schönen Luftaufnahmen offenbart sich ein intimes Mosaik von Gärten. Sie bieten den BewohnerInnen individuelle Gestaltungsmöglichkeiten und Privatsphäre. Gleichzeitig erlauben verschiedene architektonische Elemente in Puchenau den sozialen Austausch mit den NachbarInnen: Kurze Wege etwa zwischen den einzelnen Häusern oder auch die Hauptstrasse in der Stadt, auf der man Feste feiert und Kinder unbeaufsichtigt spielen. Auch ökologisch ist Puchenau sinnvoll. Dank passiver Solarenergienutzung beispielsweise kann Strom gespart werden. Zudem haben Studien gezeigt, dass Puchenau eine überaus kostengünstige Wohnform ist. Wasser- oder Strassenerschliessungen kosten bei Einfamilienhäusern fast 3.5 Mal mehr.
Das grösstmögliche Glück
Dass gewisse Elemente, die vermeintlich am Einfamilienhaus hängen, auch in anderen Wohnformen möglich sind, zeigt das zweite Beispiel, die „Sargfabrik“ in Wien. Die Anlage gilt als vorbildhaft für partizipatives Wohnen: 1996 taten sich KünstlerInnen und ArchitektInnen zum Kollektiv BKK-1/BKK-3 zusammen, um in einer ehemaligen Sargfabrik ihre eigenen Vorstellungen vom vollwertigen Wohnen zu realisieren. Entstanden ist eine Drehschreibe für ein ganzes Quartier. Weil die Sargfabrik eben mehr Wohnfacetten bietet, die der Mensch zum Glücklichsein braucht, als die „normale“ Architektur. Sie ist ein „Wohnheim“, wo es ein Restaurant gibt, Räume für betreutes Wohnen, ein Dachgarten oder ein Schwimmbad, wo sogar schon Theateraufführungen stattfanden. Die luftigen Wohneinheiten – wegen der baulichen Einschränkungen teilweise äusserst kreativen Grundrisses – bieten Platz für verschiedene Wohngemeinschaften; vom Paar mit Kind bis zur Alters-WG. Zentral für das Funktionieren der Anlage ist die Kommunikation. Weil so viele Menschen am Entstehen der Anlage beteiligt waren, fühlen sie sich auch alle für deren Wohlergehen verantwortlich. Die BewohnerInnen tauschen sich dazu rege aus, sei es beim Wäschewaschen oder im Diskussionsraum. Diese Kontaktmöglichkeiten erleichtern gerade Betreuungsaufgaben und verringern das Risiko, zu vereinsamen. Kurz: Hier scheint tatsächlich die grösstmögliche Anzahl Menschen das grösstmögliche Glück gefunden zu haben.
Sozialer Wohnbau als Standard
Wie aber kann man derart zufriedenstellende Wohnformen einer breiteren Bevölkerung zugänglich machen? Regisseur Seiss hat mehrere Antworten: Einerseits soll die Politik Alternativen zum Einfamilienhaus fördern, finanziell wie in der Bodenordnung. Andererseits sieht er ArchitektInnen in der Pflicht. Sie sollten vermehrt neue Wege gehen und – Seiss ist provokativ– sozialen Wohnbau nicht bloss als Prestigeprojekte wahrnehmen. Nicht zuletzt aber muss die Gesellschaft bereit sein, aktiv mitzugestalten. Das braucht manchmal Überwindung. Ein Bewohner von Puchenau erzählt, wie er als Schüler zum ersten Mal die Siedlung sah und fand: „Da würd ich niemals hinziehen!“
Er wohnt nun seit 30 Jahren dort. Und möchte nie wieder weg.
 
bi2
 
WOHNFORMEN – Veranstaltungsreihe Teil 2 (Kinofilm «Häuser für Menschen»)