AUCH ICH BIN EIN KINDERGARTEN!

Die Baukulturvermittlung für die nächste Generation beginnt im Kindergarten. Deshalb wage ich es, mit drei Bildern – wertfrei und somit sicher unvollständig – drei örtliche Kindergartenprojekte zu vergleichen und am Schluss einen passenden ‚Kraftort’ von der anderen Seite der Welt beizustellen.
Mein optischer Filter fokussiert auf die heute so hoch gewertete Architektur-Darstellung. Solche gezielt produzierten „Werbebilder“ sind verantwortlich für den ersten Eindruck über ein geplantes Projekt und bleiben meistens nachhaltig im Gedächtnis haften. „Einem Gebäude sollte man den Gebrauch anmerken“ oder „Form folgt Funktion» sind verbreitete Devisen. Hält das gebaute Resultat die Versprechen, die das Bild transportiert? Erfüllt das Gebäude die vom Besteller vorgegebenen Ziele? Gelingt es den Nutzern, sich das Gebäude persönlich anzueignen? Das Abwägen und Optimieren von Eigenschaften, die das geplante Gebäude bieten muss, kann sich in solchen ersten Bildern und in den begleitenden Beschreibungen werbewirksam manifestieren.
Oft gehen dabei aber die Bedürfnisse der späteren, eigentlichen Nutzer vergessen. Im Fall von Kindergärten sind das nämlich primär die Kinder!
Machen Sie mit meiner Bildstrecke den Selbstversuch: Klammern Sie Ihr Vorwissen aus und fragen Sie sich, in welchem der 4 visualisierten Kindergärten Sie als Kind gerne gespielt hätten. Oder noch direkter, drucken Sie die Bilder aus und fragen Sie die Kids direkt. In wenigen Wochen ist es ja wieder soweit, und in den Quartieren erobern Kinder mit ihren signalfarbenen ‚Chindsgi-Bändeln‘ und dem Znünitäschli umgehängt „ihren“ Kindergarten. Die dabei gemachten räumlichen Erfahrungen bilden ihnen selbstverständlich auch ein nachhaltiges Fundament für das spätere Verständnis im Umgang mit Architektur.
Kindergarten Munothalde, Schaffhausen:
bi1
Bild:
Das Bild – als werbewirksame Stüpflikarte – zeigt in einer Längsfassade die vom Architekten Wolfgang Müller, Schaffhausen, 1933/34 erstellte Flachdachsiedlung, deren abgetreppte Typologie als Erscheinungsbild in der damaligen Zeit eher an Fabrikarchitektur erinnerte. Bildquelle: Karte mit Spiel für Spende (Stadtarchiv C II.31.09.02.02/17.06)
sachlich:
Kürzlich wurden im Rahmen eines Umbauvorhabens von der Denkmalpflege die historischen Qualitäten dieses Baudenkmals erfasst. Für eine zeitgemässere und wirtschaftlichere Nutzung werden zur Zeit die beiden oberen Einzelkindergärten durch eine interne Treppe miteinander verbunden, um dadurch mehr Kindern mehr Raum zu bieten. Die interne Verbindung sprengt die ursprünglich enge Nutzungstypologie dieses als Baudenkmal erkannten 3er Ensembles. Es geht somit um mehr Raum pro Kind unter Einsparung einer Kindergärtnerinnen-Stelle.
Nebenschauplatz:
In meiner Lehre als Hochbauzeichner erfuhr ich, dass dieser 3er-Kindergarten als erste Treppenhaussiedlung der Schweiz galt.
Aneignung:
Vor 57 Jahren war der oberste der Dreien „mein“ Kindergarten. Wir waren pro Kindergarten etwa 35 Kinder. Mich faszinierten die Nutzung der Terrassen auf dem Dach des darunterliegenden Raums und die Besonderheit, dass die Kinder des untersten Kindergartens jeweils über den Zick-Zack-Weg aussen herum zur freien obersten Terrasse hinauf gehen mussten. Dichte war als Raumbegriff damals noch nicht negativ konnotiert! 25 Jahre später, als Vater meiner Kinder, erlebte ich das Gebäude zum zweiten Mal. Die Räume schienen mir viel kleiner und ich im Raum viel grösser. Heute empfehlen die Verantwortlichen, in solch kleinen Kindergarteneinheiten wenn möglich nicht mehr als 20 Kinder unterzubringen.
Doppelkindergarten Herblingen:
bi2
Bild:
2013 gewannen moos. giuliani. herrmann. architekten, Schaffhausen, den Wettbewerb und 2017 wurde der Doppelkindergarten, nach längerer Überarbeitungszeit, eröffnet. Die digitale Skizze zeigt verspielte Architekturkuben und eine Umgebung mit Platz für die geplanten Spielmöglichkeiten.

sachlich:
SCHARF veranstaltete 2013 einen Quartierspaziergang zum Ort des zukünftigen Kindergartens. Schon damals war die Hauptabsicht ‚Kindergarten‘ mit auffällig vielen zusätzlichen Nutzungswünschen ergänzt worden: 3 Kindergarteneinheiten im Mehrzweckgebäude, Quartierzentrum, Küche und Office, Pflanzgarten, Chilbi mit Autoscootern… usw. Dieses erweiterte Wunschprogramm optimal in einem Projekt unterzubringen, erwies sich für die Wettbewerbsteilnehmer als schwierig, und für einen zeitgemässen Kindergartenbetrieb sicher auch einschränkend.

Nebenschauplatz:
Alles oder Einzelnes, Quartierzentrum oder Kindergarten oder am besten alles zusammmen… oder dann doch nur Teile davon planen, bauen und nutzen?
Aneignung:
Der Kindergarten ist seit einem Jahr in Betrieb. Die Zeit wird zeigen, wie die zusätzlich beabsichtigten Nutzungen diesen Ort beleben und ob das genutzte Neben- und Nacheinander als Gewinn oder Nachteil empfunden wird.
Bildquelle: Skizzen Projektwettbewerb 2013, moos. giuliani. herrmann. architekten, Schaffhausen
Links: https://www.mgh.ch/projekte/oeffentliche-bauten/kindergarten-herblingen-sh/aussenansicht.html
https://www.sch-ar-f.ch/wp-content/uploads/2014/06/scharffokus_13_3.pdf
 
Doppel-Kindergarten Neuhausen:

Architektur Visualisierung von DVDarchitecture GmbH
Architektur Visualisierung von DVDarchitecture GmbH

Bild:
Anfangs Juli 2018, nach längerer Überarbeitungszeit, wurde beschlossen, das von Ochsner und Partner, Architekturbüro AG, Neuhausen, gewonnene Wettbewerbsprojekt für einen Doppelkindergarten umzusetzen.
Bildquelle: Visualisierung Projektwettbewerb 2013, Ochsner und Partner, Architekturbüro AG, Neuhausen
sachlich:
Das Projekt ist ein Ersatzneubau für den aus dem Jahr 1898 stammenden Kindergarten Rheingold. Der Vorschlag wurde mehrmals überarbeitet und überzeugt heute speziell durch eine Zweigeschossigkeit, die für die 44 zukünftigen Kindergärtler im engen bestehenden Kontext auch mehr Platz im Aussenraum schafft.
Nebenschauplatz:
Mit der heute für öffentliche Gebäude geforderten Pflicht eines Minergie-P-Eco-Qualitätsnachweises wird dieses Gebäude zum ersten Kindergarten in der Schweiz, der ökologisch und gebäudetechnisch so aussergewöhnlich zertifiziert sein wird.
Aneignung:
Da bei diesem Projekt noch keine Überprüfung der Visualisierung in der Realität möglich ist, steht man vielleicht ähnlich ratlos vor diesem Bild, wie vor 80 Jahren beim Projekt für die Kindergärten an der Munothalde. Erkenne ich da einen Kindergarten oder vielleicht eher ein neues Betriebsgebäude?
 
Ein visionärer Kindergarten am anderen Ende der Welt
bi4
Bild: Fuji Kindergarten, Tachikawa in der Nähe von Tokyo, Japan

Projekt: Tezuka Architects, Tokyo, Japan, 2007
Bildquelle: Internetrecherche
Link: http://www.tezuka-arch.com/english/

Was wäre, wenn?
2007 besuchte ich auf einer Architekturreise in Japan den Fuji-Montessori-Kindergarten in Tachikawa in der Nähe von Tokyo. Die von Tezuka Architects, Tokyo, konzipierte Anlage überraschte mich schon bei der Reisevorbereitung durch die locker illustrierte Projekt-Skizze, die grenzenlosen Raum versprach und den geplanten Ort als eine sehr belebte Situation vermittelte. Was, wäre wenn… dieses zauberhafte Bild auch wirklich so gebaut würde? Nach meinem ersten Eindruck real vor Ort war ich überrascht, wie gross dieses von, in Spitzenzeiten, bis zu 500 Kindern in unterschiedlichen Gruppen parallel genutzte Ort ist. Das begehbare Dach wird von drei Ulmen-Bäumen fast natürlich durchbrochen. Alle Innenräume sind ausschliesslich transparent unterteilt und optimal gegen den zentralen Innenhof angeordnet. Die ovale Grundrissform ist ein einprägsames räumliches Zeichen und funktioniert im vielfältigen Gebrauch entsprechend sinnvoll und gefasst. Die so oft geforderte Aneignung durch die Kinder ist beispielshaft!
Der Ort zieht einen durch seine Gesamterscheinung mit dem Gebäude und den lebhaften Nutzern automatisch in seinen Bann. Final kommt mir spontan ein breitgeschlagener alter Werbeslogan – in abgewandelter Form – in den Sinn: „Wenn Kinder Kindergärten wählen würden, würden Kinder Fuji-Kindergärten wählen!“