Vom Umgang mit jungen Denkmälern

«Das Verzeichnis der schützenswerten Kulturdenkmäler der Stadt Schaffhausen (VKD)». Was steckt hinter dieser sperrigen Bezeichnung? Und wie sollen wir mit den «jungen Denkmälern» umgehen? Antworten gab die Schlussveranstaltung zur VKD-Ausstellung im Bachschulhaus, die das SCHARF Schaffhauser Architektur Forum am 14. Februar 2019 organisierte.

Text Caspar Heer
CH-Auswahl Caspar Schärer, BSA Schweiz
SH-Auswahl Pierre Néma
Bilder Anlass Andres Bächtold

Mit der Erstellung des VKD ist die Stadt einer gesetzlichen Pflicht gefolgt: Das Natur- und Heimatschutzgesetz des Kantons verlangt nämlich von den Gemeinden, bis spätestens 2020 Inventare von Schutzzonen und Schutzobjekten zu erstellen. Damit werden erstmals die Quartiere ausserhalb der Altstadt systematisch erfasst und damit auch jüngere Objekte aufgelistet, welche die Denkmalpflege als schutzwürdig einstuft: Denkmäler des Industriezeitalters, der klassischen Moderne sowie auch die Architektur der Nachkriegszeit, die mancherorts einen zweifelhaften Ruf geniesst.

Denkmalpflege erweitert ihre Sicht
In seinem Einführungsreferat zeigte Caspar Schärer, Publizist und Generalsekretär des BSA Bundes Schweizer Architekten, die gesamtschweizerische Perspektive auf. Das Europäische Jahr der Denkmalpflege 1975 sei der «Big Bang» gewesen und habe einem breiten Publikum die Sorge um das gebaute Erbe bewusst gemacht. «Die Denkmalpflege und der Heimatschutz traten an, die alte Schweiz vor der Walze der Hochkonjunktur-Architektur zu retten». Als potenziell schützenswert galten zunächst nur vorindustrielle Bauwerke. Später ging die Denkmalpflege auf eine dynamischere Betrachtungsweise über. Sie bezog nicht nur den Historismus und die Moderne ein, sondern erweiterte auch die Auswahlkriterien: «Nach wie vor geht es um schöne Bauten, aber manchmal ist die Zeugenschaft mindestens so wichtig: Also was ein Gebäude von einer bestimmten Zeit erzählen kann», erläuterte Schärer.

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Architektur als Ausdruck der modernen Schweiz
Und zu erzählen gibt es von der Schweiz zwischen 1945 und 1975 viel, denn die Architektur dieser Zeit ist der Spiegel für unser modernes Gemeinwesen mit seiner damals entstandenen starken Wirtschaft und Zivilgesellschaft. «Enorm, unfassbar, ja geradezu kolossal» ist laut Schärer die Explosion der Bausubstanz: Seit 1946 wurden rund siebzig Prozent aller heute existierenden Bauten erstellt! Und zwar für ein Gemeinwesen, das alle Einwohner einschliessen sollte: Neue Schulhäuser und Gymnasien zeugen von einer Bildungsoffensive. Moderne Verwaltungsbauten sind Ausdruck der urbanen Schweiz mit ihren Sozialwerken. Infrastrukturbauten wie das Autobahnnetz weisen auf eine beispiellose Beschleunigung hin. Und unzählige Wohnbauten, auch wenn sie heute als Energieschleudern mit zu kleinen Grundrissen verpönt sind, künden von einer neuen Wohnkultur.

Offene Fragen zur Schutzwürdigkeit
«Die Schweiz war ab dem 20. Jahrhundert fast durchgehend weltweit führend in der Architekturkultur», betonte Schärer. Das habe mit unserem Bildungssystem, dem kulturellen Klima und der Aufgeschlossenheit der Bürger und Bauherren zu tun. Doch die ungehemmte Bauwut löste auch Wachstumskritik aus. «Bauen als Umweltzerstörung», das legendäre Manifest von Rolf Keller aus dem Jahr 1974, stand für eine Zäsur. Seither wird die Nachkriegsmoderne in breiten Kreisen sehr kritisch bewertet. «Heute geht es darum, angesichts der schieren Masse den Weizen von der Spreu zu trennen und bedeutsame Bauten so zu renovieren, dass sie ihren Charakter behalten und trotzdem heutigen Vorstellungen entsprechen», sagt Schärer. «Die Fragen sind noch nicht geklärt, aber es denken immer mehr Leute darüber nach».

Streifzug durch Schaffhausens Nachkriegsmoderne
Pierre Néma, Architekt und Vorstandsmitglied von Scharf, hat mit seiner Kamera auf einem Streifzug durch Schaffhausen Zeugen der Nachkriegsmoderne eingefangen – eine persönliche Ergänzung zum VKD-Inventar.
40 der insgesamt 460 im VKD-Inventar verzeichneten Objekte sind der Architektur des Aufbruchs zuzuordnen, stellt Néma fest. Die Aufnahme ins Inventar erfolge nach einem Punktesystem für Qualitätsmerkmale. Néma stellt jedoch bei seinem Referat den persönlichen Bezug zu den Objekten, die er immer in einem grösseren Zusammenhang sieht, in den Vordergrund. Damit meint er das direkte Erleben, das er auch mit eigenen Fotos einzufangen versucht, von denen jedes ein kleines «Denk-Mal» ist.

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Grosse Erlebniskraft entfalten laut Némas Überzeugung persönliche Bezüge im Kindesalter, also erste Begegnungen mit der Architektur von Kindergärten, Schulhäusern oder Sportstätten wie der KSS. Dieses Werk von Ernst Gysel ist eine Gesamtanlage, die trotz verschiedener Architekturformen einheitlich wirkt. Wie damit bei der bevorstehenden Gesamtsanierung umzugehen ist, dürfte für Diskussionsstoff sorgen.
Nächste persönliche Raumerfahrung war für Néma das von Walter Förderer gebaute Kantonsschulgebäude. «Das ist für mich ein Bau, der auch nach Jahren uneingeschränkt funktioniert, gerade wenn er voll von Menschen ist», schätzt er.

Néma ging auf eine weitere Gebäudekategorie mit viel Erlebnischarakter ein: Die neuen Sakralbauten in den rasch wachsenden Aussenquartieren. Es sind Kirchen wie St. Konrad, die wie eine Akropolis über dem Grubental thront, St. Peter oder die Zwinglikirche, die für die Quartiere seit den 1950-er Jahren wichtige Bezugspunkte bilden.

Gute Architektur stammt dabei nicht notgedrungen von Berühmtheiten. Einer der Hauptakteure in der Nachkriegszeit war laut Néma der Architekt Walter Henne (1905-1989): «Zu seinen Bauten gibt es kaum Archivmaterial. Doch er hatte aber ein gutes Sensorium für das menschliche Mass». Das zeigt sich bei der alten Sternwarte ebenso wie bei zahlreichen seiner Einfamilienhäuser.

«Insgesamt war und ist Schaffhausen im Bereich Wohnbauten allerdings nie herausragend», stellt Néma fest. Ein erstes Wohnhochhaus am Rheinufer von 1958 figuriert im Inventar. «Gute Ansätze im Wohnbereich gibt es aber erst am Übergang zu den 1980-er Jahren. Und es sind meist kleinere Objekte, die im internationalen Vergleich keine Bedeutung haben». Ähnliches stellt Néma für den Bereich Industriebauten fest, wo im Wesentlichen bestehende Objekte durch Anbauten oder Verwaltungsbauten ergänzt wurden.

Fazit:
In Schaffhausen ist die Erstellung des VKD ein wichtiger Schritt. «Was man als schützenswert anerkennen soll, ist allerdings nicht einfach zu entscheiden, zumal die subjektive Meinung bei der Architektur immer eine grosse Rolle spielt», meint Christian Wäckerlin. «Eine rein museale Haltung bringt uns nicht weiter: Architektonisch wertvolle Gebäude müssen auch in unserer Zeit eine Funktion erfüllen können.»

Man kann das VKD als Arbeitsinstrument für die Baubehörden betrachten. So betonte Schaffhausens Baureferentin Katrin Bernath, dass die Aufnahme einer Immobilie in dieses Inventar die Besitzer lediglich verpflichte, vor tiefgreifenden Veränderungen mit der Stadt frühzeitig das Gespräch zu suchen. Was das im Einzelfall bedeutet, blieb allerdings unklar. Vertreter von Denkmalpflege und Heimatschutz neigen naturgemäss dazu, einmal als schutzwürdig deklarierte Bauten zu erhalten. Die Perspektive von Architekten und Bauherren richtet sich eher auf eine zukünftige Nutzung, womit die Veränderung (oder ein Abriss) in den Vordergrund rückt. Denn wenn ein Objekt nicht mehr für zeitgemässe Wohn- oder andere Funktionen taugt, verliert es seinen Wert. Wenn nun eine Veränderung ansteht, wäre die Frage also nicht nur, was war und ist, sondern vor allem danach, was sein könnte. Das Zukünftige sollte dabei – nebst dem Respekt des Bisherigen – möglichst einen Mehrwert bieten, ein Prozess, der für sorgfältig arbeitende Architekten bisher schon selbstverständlich war.

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