Lösung mit Vorbildcharakter: Industriestrasse Luzern

Schaffhausen steht immer wieder vor der Frage: Wie soll man städtebaulich bedeutende Projekte anpacken? Ein Beispiel aus Luzern zeigt, wie man in einer komplexen Situation zu einer mustergültigen Lösung kommen kann. An einer Scharf-Veranstaltung im März 2019 zeigten Exponenten der «Kooperation Industriestrasse» auf, wie sie vorgehen.

Text: Caspar Heer / Bilder Anlass: Andres Bächtold / Bilder Referate (Auszüge): ReferentInnen

Am Anfang stand der Unmut der Bevölkerung, hauptsächlich der jüngeren. «Nach der Jahrtausendwende wurden in Luzern viele günstige Kultur- und Freiräume neu überbaut», sagt Cla Büchi, der Projektleiter «Kooperation Industriestrasse». Eines der letzten Areale, das noch zur Umnutzung anstand, liegt hinter dem Bahnhof. Die Stadt Luzern schrieb 2011 einen Investorenwettbewerb aus und beabsichtigte, das Gelände an der Industriestrasse an einen Generalunternehmer zu verkaufen. «Das stiess auf Widerstand», sagte Büchi. «Der Ruf wurde laut, den Ausverkauf unserer Stadt zu stoppen».

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Volksinitiative weist den Weg
Bewohnerinnen und Bewohner forderten eine städtebaulich sensiblere Lösung. Sie lancierten die Volksinitiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse – für KMU, bezahlbares Wohnen und Kulturraum für alle» mit der Forderung, das Areal an einen gemeinnützigen Bauträger im Baurecht abzugeben. 2012 wurde sie von der Bevölkerung angenommen. Um die Vorgaben zur Abgabe im Baurecht zu definieren, beauftragte die Stadt die Hochschule Luzern einen partizipativen Prozess durchzuführen. Erst danach stellte sich die Frage: An wen soll das Baurecht gehen? Eine nationale Ausschreibung sollte den geeigneten Bauträger zu Tage fördern.
Statt sich zu konkurrenzieren, schlossen sich fünf politisch unterschiedlich ausgerichtete Genossenschaften zur «Kooperation Industriestrasse Luzern» zusammen und reichten ihr Bewerbungskonzept ein. 2015 erfolgte der Zuschlag an die Kooperation, 2016 stimmte das städtische Parlament dem Vertrag zu und die Kooperation richtete eine Geschäftsstelle mit 170 Stellenprozenten ein. Sie setzte sich zum Ziel, eine sozial und ökologisch nachhaltige Bebauung mit Wohnungen verschiedener Grösse für rund 400 Personen sowie Infrastruktur für rund 130 Arbeitsplätze zu schaffen. Ein vielfältiger Nutzungsmix sollte in engem Austausch mit den Initianten des Volksbegehrens, der Quartierbevölkerung und den diversen Nutzern auf dem Areal entwickelt werden.

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Zweistufiger Planungswettbewerb
Die Kooperation arbeitete 2017 einen zweistufigen Projektwettbewerb aus: In einem ersten Schritt wurde dazu eingeladen, Ideen für den Ort zu skizzieren. 21 Architekturbüros präsentierten ihre Vorstellungen für die Entwicklung des Areals. Es folgte als zweiter Schritt ein anonym durchgeführter Wettbewerb: Die 13 überzeugendsten Teilnehmer der ersten Wettbewerbsrunde wurden eingeladen, ein detailliertes Projekt einzureichen. Dabei ging es um das städtebauliche Konzept, die Aussenräume sowie die Gebäudetypologie für die einzelnen Genossenschaften zu entwickeln.
Die Wettbewerbsjury bestand aus Fachleuten, das heisst Architekten, Vertretern der Stadt und der auftraggebenden Genossenschaften. Die Anliegen der Quartierbewohner wurden an verschiedenen Veranstaltungen diskutiert und seien in die Wettbewerbsvorgaben eingeflossen, sagt die Architektin Ilinca Manaila, die der Fachjury angehörte. Die Jurierung erfolgte im Sinne möglichst grosser Transparenz halböffentlich. Das heisst, Interessierte konnten auf Anmeldung dem Auswahlprozess beiwohnen, allerdings ohne Mitsprache. Auch Primarschulkinder wirkten mit. Unter dem Label «KinderPlanenStadt» entwickelten Fünftklässler ihre eigenen Ideen für das Areal. Eine Alibi-Übung? Nein, sagt Jury-Mitglied Manaila: «Für uns war wichtig, dass bei den Kindern die weichen und nicht die messbaren Faktoren an erster Stelle standen. Das hat sich auf unsere Jurierung ausgewirkt».

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Mon Oncle – «Poetisches Meisterstück»
Und so hat laut dem Urteil der Jury ein «mutiges und gleichzeitig poetisches Meisterstück» den Wettbewerb gewonnen: das Berner Team Rolf Mühlethaler/Christoph Schläppi mit dem Projekt «Mon Oncle». Die Projektbezeichnung ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Film von Jacques Tati, wo Monsieur Hulot in einem vielfältig gewachsenen, etwas heruntergekommenen, aber sehr lebenswerten Altstadtteil wohnt – der kontrastiert mit den funktionellen, oft aber seelenlosen Haus- und Gartenträumen moderner Vorstädte.
«Städtebau soll die Spuren der Vergangenheit nie auslöschen, sonst fängt man bei Null an», ist Schläppi überzeugt. «Wir haben beim Bestand begonnen und das Areal von da aus durchmodelliert». So schimmert das Alte auch im Neuen immer durch. Entstanden ist ein feingliedriges, kleinkörniges Gesamtbild aus alten und neuen Gebäuden mit einer abwechslungsreichen Freiraumstruktur aus Gassen, Plätzen und Verbindungswegen. Die Kleinräumigkeit, das Patchwork aus Bestehendem und Neuem und die räumliche Flexibilität beurteilte die Jury als grosse Stärke des Projektes – es wirke im umliegenden Quartier stimmig und komme den vielfältigen Bedürfnissen der künftigen Bewohnerinnen und Bewohner entgegen.

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Bei der Überbauung des Areals kommen drei Architekturbüros zum Zug:

  • Das Büro Rolf Mühlethaler als Wettbewerbsgewinner Städtebau zeichnet für die städtebauliche Struktur und die Aussenräume verantwortlich sowie für Gebäude der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (abl), Wohnwerk und der 2013 gegründeten Gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft Industriestrasse (GWI) verantwortlich.
  • Die Luzerner röösli maeder Architekten erstellen Gebäude für die abl und die Liberale Baugenossenschaft LBG.
  • toblergmür Architekten Luzern/Zürich sind für die Genossenschaften Wogeno und GWI tätig.

Mitwirkung als permanente Begleitaufgabe
Bei der Scharf-Veranstaltung ging es auch um die Frage, was sich vom Luzerner Beispiel auf Schaffhausen übertragen liesse. Architekt Roland Hofer meinte dazu: «Es ist ein Leuchtturmprojekt, das für die künftige Überbauung von Genossenschaftsarealen prägend sein wird. Denn es geht zuerst darum, wie man miteinander lebt und erst dann um Architektur. Und das ist das Resultat des ganzen Prozesses».
Ein wichtiger Teil des Prozesses ist die Partizipation, das Einbinden eines ganzen Strausses von Anliegen von Quartierbewohnern, Baugenossenschaften, Gewerbetreibenden, Kulturschaffenden und weiteren Nutzern – also allen, die das Areal mitprägen wollen und sollen. In Luzern ist das bis anhin gut gelungen durch Workshops, Fachtagungen, Quartieraktivitäten und kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit, welche die Anliegen verschiedener Gruppen sichtbar machen. Gleichzeitig sorgt die Geschäftsstelle der Kooperation für eine professionelle Umsetzung der Arealentwicklung durch Fachleute.
Aktuell läuft die sogenannte Dialogphase. Büchi dazu: «Unter Mitwirkung verschiedener Anspruchsgruppen erarbeiten wir jetzt zusammen mit den drei Architektenteams das Regelwerk für die Arealüberbauung». Christian Schläppi hätte es zwar vorgezogen, diese Partizipation früher abzuschliessen, er sagt aber: «Wir wollen voneinander lernen und lassen uns deshalb gern darauf ein».

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Tempo und Kosten
Doch führt das nicht zu einem unnötig komplizierten und am Ende langwierigen Verfahren, bei dem die Kosten aus dem Ruder zu laufen drohen? Manaila betont, man sei in Luzern im Vergleich zu ähnlichen Städtebauprojekten schnell unterwegs. Und Büchi erklärt warum: «Wir erarbeiten parallel zur Dialogphase ab Mai/Juni das Vorprojekt, das bis Ende Jahr vorliegen soll. Es bildet die Basis für den Gestaltungsplan (Quartierplan) mit dessen Genehmigung wir 2021 rechnen.» Dann folgt die Überbauung in Etappen, so dass möglichst viele Bewohner und Nutzer auf dem Areal bleiben können.
Der Architekturwettbewerb, übrigens eine Vorgabe der Stadt Luzern, zahle sich in mehrfacher Hinsicht aus, ist Büchi überzeugt. Neben den städtebaulichen, sozialen und ökologischen Qualitäten spricht er damit auch die Kosten an. Das Projekt wird seit der Wettbewerbsphase von einem Bauökonomen eng begleitet, um kostentreibende Faktoren früh zu erkennen. Büchi gibt sich zuversichtlich: «Unsere aktuellste Kostenschätzung vom April lautet auf rund 90 Millionen Franken und hat frühere Prognosen bestätigt».

Fazit
Das Fazit des Luzerner Beispiels: Ein Architekturwettbewerb schafft gerade in komplexen Situationen klaren Mehrwert. Der Dialog mit den verschiedenen Anspruchsgruppen ist eine Voraussetzung dafür, doch muss der Mitwirkungsprozess klar definiert und kontinuierlich begleitet werden. Schliesslich darf beim Prozess bis zum fertigen Bauprojekt nichts dem Zufall überlassen werden, vielmehr muss er professionell durchgezogen werden.

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  • Referat Cla Büchi, Projektleiter Kooperation Industriestrasse, Luzern
    «Voraussetzungen, Bauherrschaft, Bauvorhaben»

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  • Ilinca Manaila, Architektin, Jurymitglied, Zürich
    «Partizipation, Qualitätsverfahren, Wettbewerb»

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  • Rolf Mühlenthaler / Christoph Schäppi, Projektverfasser, Bern
    «Wettbewerbsprojekt»

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