Eine gute Nacht Geschichte oder ……wer hat hier den Dachschaden?

(Ein illustrierter Text für eine Baukultur trotz des allgegenwärtigen Gegenwindes.)

Pierre Néma (Text und Bild)

Eines späten Abends im September. Ich schaue mir, in Vorfreude auf die kommenden Ferien, auf meinem Computer alte Griechenlandfotos an, die ich vor 2 Jahren auf der Insel Milos gemacht habe. Da entdecke ich ein Mail, das schon am Morgen von Wäck (Christian Wäckerlin) hereingeflattert ist, mit dem nachfolgenden Bild im Anhang (Auszug aus NZZ Artikel vom 16. September 2019).

VaduzEin Teil der Klinkersteine an Fassaden und Dächern hält dem Wetter offenbar nicht stand
Dachschaden
Der Artikel erzählt die leidvolle Geschichte des Landtagsgebäudes in Vaduz, an dessen Dach und Fassade starke Witterungschäden an den Klinkersteinen auftreten. In der Zwischenzeit haben sich diese als Dauersanierungsfall entwickelt. Das Lob, welches die Architekten, die durch einen Architekturwettbewerb ermittelt wurden, durch die originelle Gestaltung einheimsten, ist mittlerweile einer Ernüchterung gewichen. Die vermeintlich zeitlose Gestaltung wurde vom Zahn der Zeit eingeholt. Baukultur ja, aber……die Bauexperten hatten schon im Vorfeld davor gemahnt.
Ich kratze mich kurz an den Haaren und setze nach dieser kurzen Störung das Betrachten der Ferienfotos fort, da bleibe ich bei einem Bild stehen, das ein unschuldiges Kirchlein, ja eher eine winzige Kapelle, zeigt, welche auf der Insel Milos auf einer kleinen Hügelkuppe tapfer seit Jahrzehnten dem Wind und den Zeiten trotzt und sich nicht minder selbstbewusst gegen den Himmel streckt, wie das soeben kolportierte Parlamentsgebäude.

MilosFotografiert auf der Insel Milos, 2017

Der Baum daneben erzählt vom unablässigen Wind. Die im Vorfeld liegenden und offensichtlich handwerklich bearbeiteten Steinquader erzählen von Vergänglichkeit. Das kleine Gotteshaus wird vermutlich nach griechischer Tradition jährlich an Ostern frisch geweisselt, ist bautechnisch offensichtlich strickte Trennkost und, was Sanierungen betrifft, vermutlich recht pflegeleicht.
Ich switche kurz zurück. Zur Ehrenrettung von Vaduz sind die hygroklimatischen Verhältnisse in der Ägäis vermutlich für die Bausubstanz günstiger als jene im Ländle.

Es ist schon spät, ich gehe zu Bett. Unter der Bettkante liegt bei mir zurzeit der Wälzer Le Corbusier, Reise nach dem Orient. Er liegt momentan nicht ganz zufällig dort. Ich will mir noch vor den Ferien ein paar Zeilen der Reiseerinnerungen des bekannten Architekten reinziehen und nachschauen, was dieser so fotografierte, wenn er nicht gerade skizzierte.

LC ParthenonDarstellung aus dem Buch Reise in den Orient zeigt Le Corbusier mit geschwellter Brust. Sein Cahier unterm Arm, Zigarillo schmauchend steht er vor seinem geliebten Parthenon.
Athen in den 20er Jahren

Die Schläfrigkeit zieht mich trotz des Gedankenstrudels der vergangenen Minuten hinunter. Ich nicke über dem Buch ein. Im Halbschlaf erscheinen mir von der eindringenden Nässe durchweichte, vor sich hinbröckelnde, pyramidale Baukörper, sinnlos und verloren in der Einöde herumstehend, umringt von lauter winzigen, weiss gestrichenen Würfelbauten, die sich synchron im Winde bewegen. In diesem Traum fehlt nur noch eine hagere Gestalt, die auf einem Säulenstrunk sitzend eifrig das gesehene ins Reisetagebuch skizziert …….
Ich winde mich gerade noch aus dem Halbschlaf heraus. Die Lage kopfüber an der Bettkannte wäre zum Weiterträumen zu unbequem, geschweige denn zum Weiterschlafen. Ein Gedanke huscht mir doch noch schnell durch den Kopf……… hat nicht Le Corbusier gerade diesen ganzen Begriffscocktail, der eingangs erwähnter Aspekte, irgendwo literarisch verdichtet? Erhabene Baukultur der klaren Formen, Konstruktionen, die nicht ganz dicht sind, literarisch begleitet von jeder Menge Pathos? griechischem und selbstkonstruiertem?
Etwas aus meiner Studienzeit steigt langsam in mir hoch.
Ich stehe trotz der Gliederschwere nochmals auf und schleppe mich zum Büchergestell, wo ich nach kurzer Suche Vers une architecture, das Buch, das in so manchen Architektenregalen vor sich her gilbt, vom Regal nehme. Ich blättere irgendeine Textstelle suchend flüchtig und planlos darin herum und bleibe vorerst an einer Seite mit folgender Illustration hängen, die in mein Auge sticht. Dazu der daruntersetzende Textauszug.

LC Bauformen
…. Einheit der Idee, Kühnheit und Einheit der Konstruktion, Verwendung der elementaren Körperformen ……… übernehmen wir doch wir «neuen Römer» den römischen Backstein…..!
Vers une architecture S. 125
Ob sich LC der Konsequenzen bewusst war? Ich meine bezüglich der Verwendung des Backsteins? Wenigstens wissen wir aber jetzt woher der Architekt (eben der von Vaduz) den Tipp herhatte.
Weiterblätternd bin ich dann schliesslich angekommen. Zumindest dorthin, wonach ich, mehr konfus als zielgerichtet, gesucht habe. Einleitend der schwülstige Titel:

ScreenClip
Schliesslich zwei Seiten später nach einem einleitenden Text dann die Essenz:
……Ein Kunstwerk muß Charakter haben. KIar formulieren, das Werk mit einer Einheit erfüllen, ihm eine Grundhaltung geben, einen Charakter: reine Schöpfung des Geistes
(und weiter)
……Man gesteht sie der Malerei und der Musik zu; die Architektur jedoch drückt man auf nützliche Zwecke hinunter: Boudoirs, WC, Heizungen, Eisenbeton oder Gewölbe oder Spitzbögen. Das sind Sachen der Konstruktion, das gehört nicht zur Baukunst.
Von Baukunst kann man erst sprechen,wenn poetisches Gefühl vorhanden ist….
(meint er vielleicht die Kapelle auf Milos von vorhin? zwischenzeitlich war ich wieder hellwach)
…….Baukunst ist Sache der plastischen Form.
(würde auch passen)
…..Plastische Form ist, was man sieht und mit Augen messen kann. Es ist natürlich selbstverständlich, daß die Freuden der Architektur erheblich beeinträchtig, werden ……
(Achtung liebe Leser, jetzt kommts, bezüglich des Dachschadens)
……wenn es durch das Dach regnet oder die Heizung nicht funktioniert, wenn die Wände rissig sind……..
In fast allen Bauperioden war man auf der Suche nach neuen Konstruktionen. Daraus hat man schon öfter geschlossen: Baukunst heißt Konstruktion. Es kann sein, dass die Bemühungen der Architekten in erster Linie den damaligen Konstruktionsproblemen galten;
(Aufgepasst jetzt wird LC merklich lauter, es vibriert fast schon)
……….das ist jedoch noch kein Grund, die Dinge miteinander zu verwechseln!
Selbstverständlich muß der Architekt seine Konstruktion mindestens so beherrschen wie der Denker seine Grammatik.
(autsch, da krieg ich auch noch mein Fett ab…)
……Aber da die Konstruktion, eine beträchtlich schwierigere und komplexere Wissenschaft als die Grammatik ist, sind die Anstrengungen der Architekten sehr lange durch sie gebunden …….
(entschuldigung, dass ich jetzt ganz kurz vor Schluss nochmals, aber versprochen das letzte Mal, unterbreche aber jetzt kommts, liebe Wettbewerbsgegener, Baupraktiker, Umsetzungstreiber, Baukulturabstinenzler…….. )
…….sie dürfen nur nicht darin erstarren!

Nach dieser Lektüre lege ich mich hin und kann nun trotz der Bedeutungsschwere des Textes ruhig und gleich einschlafen.
Morgen bastle ich mir was draus!
Zum Schluss und in diesem Zusammenhang (statt einer trockenen Quellenangabe) noch ein paar etwas arg kurzfristige Empfehlungen für die Ferienlektüre:

Die Mutter aller Architekturpamphlete zum wieder aufwärmen. Aber Vorsicht, stellenweise arg pathetisch!
Le Corbusier 1922
Ausblick auf eine Architektur
Bauwelt Fundamente
Ausblick auf eine Architektur

Und für die kritischen Geister, die alles hinterfragen müssen.
Die Inszenierung eines Mythos
Le Corbusier und die Akropolis
Bauwelt Fundamente
Mthos]

Bettkantenliteratur für Reiseschwelger und Orientalisten unter uns Architekten. Für die, die in den Ferien nicht abschalten können (oder zu Hause bleiben müssen).
Le Corbusier
Reise in den Orient
LC Orient
…..und zum Schluss noch was für die unverbesserlichen Spassverderber…..
Keine Angaben, selber suchen.
Bauschäden