Fokus Schaffhausen, Zukunft und Städtebau

Mitten im letzten Sommer, im Programm des Informationstages zur Kammgarnabstimmung gelang es SCHARF, ein publikumswirksames Referat mit Fabienne Hoelzel, Städtebau-Professorin, zu ihren fünf Thesen für einen zukünftigen Städtebau zu organisieren. 

Die lockere und ungezwungene Atmosphäre der geräumigen Hallen im Kammgarn-West-Gebäude, sowie die erfrischend, klar verständlichen Thesen der zukunftsorientierten Referentin befeuerten die Vorstellung aller interessierten Besucher, wie wir denn zukünftig leben und mobil sein werden und wie wir unseren Lebensraum dazu geeignet justieren könnten.

Kurz darauf stimmte eine Mehrheit der Schaffhauser Bevölkerung den beiden Vorlagen im Zusammenhang mit der Umnutzung des Kammgarngebäudes positiv und dadurch zukunftsweisend zu. Dieser Wille zeigt, dass die Schaffhauser*innen ‚Veränderung’ können und wollen.

Kürzlich wurde für diesen städtebaulich wichtigen Ort bereits die ersten Planungsschritte konkretisiert. Die Ausschreibung eines Planerwahlverfahrens für die Entwicklung des Kammgarn-West-Gebäudes, sowie – seit langer Zeit erwartet und daher besonders erfreulich – ein offener Wettbewerb für die Platzgestaltung zeigen, dass qualitätsfördernde Findungsprozesse für öffentliche Bauvorhaben eigentlich viel zwingender und selbstverständlich sein müssten. Solche zur Vermittlung geeignete Planungsprozesse zur Auswahl einer bestmöglichen Lösung aus einer Projektvarianz heraus juriert, werden wir von SCHARF auch zukünftig noch viel bestimmter einfordern.

Aus dem Fokus einer permanent geforderten kritischen Vorstellungskraft bezüglich der stetigen Veränderung unseres Lebensraumes, lohnt es sich ganz besonders, die Texte von Caspar Heer und die beigestellten Links zur Person und Arbeit von Fabienne Hoelzel nochmals zu vertiefen.

SCHARF wünscht Ihnen angeregte Gedanken.

Urbane Dichte gestalten

Vortrag «Fünf Thesen zum Städtebau der Zukunft»

Text: Caspar Heer

«Zeiten der Ordnung sind die Atempausen im Chaos», sagte Christian Wäckerlin zum Auftakt der ersten «scharf»-Veranstaltung im laufenden Jahr. Das Corona-Virus erzwang eine solche Atempause. Umso grösser war das Interesse am Vortrag von Fabienne Hoelzel im Rahmen des Kammgarn-Aktionstags am 25. Juli 2020. 

Fabienne Hoelzel, Professorin für Entwerfen
und Städtebau an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste Stuttgart, kennt sich aus mit Chaos: Mit ihrer Agentur «Fabulous Urban» ist sie in Nigeria und Brasilien in der städtebaulichen Forschung und Planung tätig. Bei allen Unterschieden zwischen Metropolen in der dritten und ersten Welt: Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Struktur, ihre Ordnung oder eben Unordnung das Zusammenleben der Menschen reflektiert. 

«Covid-19 ist wie ein Brennglas, das anzeigt, was dabei nicht funktioniert», meinte Hoelzel. Die Wirkung der Pandemie sei zweischneidig: einerseits bringe die Krise Wind in gewisse stadtplanerische Segel, anderseits würden urbane Lebensweisen verteufelt. Dabei bräuchten wir nicht a priori mehr Platz, sondern besser gestaltete Innen -und Aussenräume. 

Soziale und ökologische Werte durchsetzen

Und das erreicht man laut Hoelzel nicht, wenn man nur den treibenden Marktkräften folgt. Ihre erste These lautet deshalb: Die Gesellschaft muss sich politisch einbringen, um ihre sozialen und ökologischen Wertvorstellungen durchzusetzen. Als Beispiel für eine Planung in diesem Sinne führte die Architektin die Zürcher Genossenschaftssiedlung «Mehr als Wohnen» an. 

Wir brauchen aber nicht nur bessere Wohnungen, sondern auch durchdachte «Filterzonen», die private und öffentliche Räume sinnvoll verbinden, lautet Hoelzels zweite These. Wie einfach diese Verknüpfung sein kann, zeigen beispielsweise die älteren Stadtquartiere von Montréal, wo Wohnungen und Strassen treppauf treppab verbunden sind. Das Wiederentdecken solcher historischer Vorbilder kann helfen, gut nutzbare Frei- und Gemeinschaftsräume zu gestalten. 

Offene Raumkonzepte

Für das Innere der Wohnungen gilt: Sie müssen nicht grösser, sondern vor allem flexibler werden. Denn Hoelzel ist überzeugt: Der scheinbare Gegensatz von analoger und digitaler Welt löst sich zusehends auf. Ihre dritte These: Raumkonzepte offen gestalten, unterschiedliche Wohnungstypen mit einer Vielzahl von Nutzungen entwickeln und dabei die Nähe von Wohn- und Arbeitsräumen einplanen. Denn Co-Working wird in Zukunft nicht allein für die Kreativbranche der Normalfall sein. 

Die Innenstädte sollten autofrei geplant werden, so Hoelzels vierte These. Ein entsprechender strukturell-strategischer Entscheid würde eine andere Form von Städtebau und damit andere Wohn- und Arbeitsformen nach sich ziehen. Separate Fahrbahnen für den öffentlichen Verkehr, Velostrassen oder die Beschränkung von Parkplätzen sind wirkungsvolle Massnahmen, die den Langsamverkehr nachweislich markant steigern. Ein guter öffentlicher Verkehr mit den nötigen Infrastrukturbauten ist eine wichtige Voraussetzung für eine solche Neuorientierung. Wie eine attraktive ÖV-Anbindung aussieht, illustriert der neu gestaltete Bahnhof Oerlikon. 

Gerechtigkeit als Planungsgrundlage

Die Quintessenz des Städtebaus, so Fabienne Hoelzels fünfte These, ist die Erhaltung, Schaffung und Gestaltung von urbaner Dichte. Dabei geht es nicht allein um bauliche, sondern auch um soziale, um kulturelle und um Wissens-Dichte. Und auch um das uralte Thema Gerechtigkeit als Grundlage der Stadtplanung. Diese müsse öffentliche Räume und Infrastrukturen schaffen, wo man sich auf Augenhöhe begegne, fordert Hoelzel. 

Die Covid-Pandemie hat das «Landleben» und den Individualverkehr aufgewertet und damit den Sinn der urbanen Dichte teilweise infrage gestellt. Trotzdem sieht Hoelzel in der Krise durchaus eine Chance: Sie biete nämlich auch einen Anlass, die Debatten um die Beschaffenheit des öffentlichen Raums und seiner Infrastrukturen wie auch neuer Wohnkonzepte zu intensivieren. 

Link: Vortrag Fabienne Hoelzel

Interview: Caspar Heer

«Der Fokus des Städtebaus ändert sich rasch»

Fabienne Hoelzel zur Rolle privater Bauherren, dem Umgang mit bestehenden Bauordnungen und den Auswirkungen des Klimawandels auf die Stadtplanung.  

Caspar Heer: Die Gesellschaft kann soziale und ökologische Wertvorstellungen gut auf dem Weg über Genossenschaftssiedlungen verwirklichen. Vielerorts prägen aber private Bauherren das Geschehen. Was ist zu tun?

Fabienne Hoelzel: Genossenschaften bauen oft qualitätsbewusst, sie sind aber kein Allheilmittel. Es gibt zum Glück auch sehr gute Projekte privater Bauherren wie das Hagmann-Areal beim Bahnhof Winterthur-Seen. Solche Musterbeispiele bringen den auf Rendite getrimmten Investoren-Wohnungsbau in Zugzwang. Auch Privatpersonen sind nicht machtlos: Sie können ihre Vorstellungen auf der Gemeindeebene einbringen oder sich zu Baugruppen formieren. 

C.H.: Filterzonen verbinden private und öffentliche Räume. Was ist zu tun, dass daraus nicht Konfliktzonen entstehen?

F.H.: Wo das Private und Öffentliche ineinandergreifen, gibt es immer Raum für potentielle Konflikte. Architektur und Städtebau können und müssen die räumlichen Angebote schaffen,  wie wir als Menschen damit umgehen, ist dann auch eine gesellschaftliche Frage. Wir müssen miteinander aushandeln, wie wir zusammenleben wollen. Wenn der Wille dazu fehlt, wird es schwierig. 

C.H.: Sie plädieren für eine dynamischere Form von Städtebau, bei dem auch Langsam- und öffentlicher Verkehr ganz zentral sind. Sind da bestehende Bau- und Zonenordnungen nicht unüberwindbare Hindernisse?

F.H.: Tatsächlich bräuchte das neue Verständnis von Stadtplanung flexiblere Regelwerke, die beispielsweise Misch- oder Mehrfachnutzungen zulassen. Aus Gründen der Rechtssicherheit kann man die Bau- und Zonenordnungen aber nicht einfach abschaffen. Und sie grundlegend zu verändern, würde ewig dauern. Doch diese bestehenden, klassischen Regelwerke können durch informelle Planungsinstrumente ergänzt werden. „Informell“ bezieht sich dabei auf die Auftraggeberin und/oder die rechtliche Verbindlichkeit. Ich denke dabei an Instrumente wie die „LaRes“ des Kantons Zürich oder die „Res“ der Stadt Zürich. In den Niederlanden arbeitet man mit Strukturplänen oder -visionen. Den nötigen Rückhalt dafür können offene Partizipationsprozesse oder informelle Planungsgruppen geben. Ein aktuelles Beispiel ist das vom Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt und dem Architekturmuseum SAM organisierte Forum Städtebau «Basel 2050». Es eröffnet Fachleuten, Politikerinnen wie auch breiten Bevölkerungskreisen Raum zum Mitdenken und Mitmachen. 

C.H.: Verträgt sich die Forderung nach mehr urbaner Dichte nicht schlecht mit dem Klimawandel? Muss hier der Fokus neu gesetzt werden?

F.H.: Tatsächlich lag der städtebauliche Fokus bisher stark auf den Gebäuden, doch das ändert sich jetzt rasch. Inzwischen spielen in der Stadtplanung die Durchlüftungswege und die richtige Platzierung neuer Gebäude aus stadtklimatischen Überlegungen eine zentrale Rolle. Auch die Funktion und Gestaltung der Zwischenräume wird immer wichtiger. Grünflächen statt Hartbeläge können viel zur Kühlung beitragen, am Boden, auf Dächern und selbst an Fassaden. Stärker betont werden muss auch die Stadtlandschaft als Ganzes, und zwar über administrative Grenzen hinweg. Zumindest in den Fachkreisen ist dieser Paradigmenwechsel angekommen: Einige Hochschulen bieten schaffen neue Lehrstühle und Studiengänge im Fachgebiet des «Landschaftsurbanismus».

Link Beitrag der SN, 27.07.2020: «Wiegenfest» für eine neue Kammgarn West

Links Fabienne Hoelzel: fabulousurban ; städtebau abk stuttgart

Ein weiterführender Link zu einem erfrischenden Interview von SRF3 Fokus mit Fabienne Hoelzel zu ihren Arbeiten, zum Städtebau und zur Mobilität: 20210222_SRF3_Focus