Mit dem Universum verbunden

Der Unterhaltsstützpunkt Berninapass ist das Siegerprojekt des Architekturpreises BETON 20/21. Das Unterhaltgebäude ist von einfacher Struktur und grosser Ästhetik und steht in grandioser Landschaft. Mit seiner Camera obscura im Siloturm avanciert der Zweckbau zum Engadiner Wahrzeichen und Ausflugsziel – und das nicht nur für Architekturfans.

Text: Cornelia Wolf
Bilder: Guido Baselgia, Malans / Pierre Néma

Ausstellung Architekturpreis BETON 20/21 in Schaffhausen
Seit 1977 wird alle vier Jahre der Architekturpreis BETON verliehen. Das Schaffhauser Architektur Forum hat die Ausstellung, die alle preisgekrönten Bauten in Beton und sämtliche nominierten Objekte zeigt, nach Schaffhausen geholt und im südlichen Teil des Kreuzgangs zu Allerheiligen installiert. Ein inspirierender Kontrast! Auf Einladung von SCHARF referierte Valentin Bearth von Bearth + Deplazes Architekten AG, Chur, über Beton, ein Wohnhaus und natürlich über das Siegerprojekt.

Was bedeutet Beton heute? 
Kann und darf man mit dem Material überhaupt noch bauen? Diese Frage, die ihm viele Architektur-studierende immer wieder stellen, beantwortet Valentin Bearth mit: „Selbstverständlich kann man das, und selbstverständlich muss man sich mit der Art und Weise, wie man mit jedem Material umgeht, auseinandersetzen.“ Bearth + Deplazes Architekten bauen immer wieder mit Beton in verschiedensten Konstellationen und unter verschiedensten Voraussetzungen – vom kleinen Wohnhaus bis zur Infrastrukturanlage. 

Moderne Variante eines Engadinerhauses 
Als kleines Präludium stellt Valentin Bearth das Wohnhaus Schweizer-Schmid in Ardez im Unterengadin vor. Ein quadratischer Bau am Rande der Ortschaft, rechts und links erweitert mit zwei von Betonmauern eingefassten Gärten, die das Haus vergrössern und beschützen. Mit dem Betreten des Gebäudes durch diese Hofsituation verlässt man das „Draussen“, um zuoberst in der Loggia wieder in die Landschaft einzutauchen. Das dramaturgisch ausgeklügelte Innere des Gebäudes führt hinauf zum Licht und präsentiert dem Betrachter durch drei grosse, offene Rundbögen hindurch ein vollkommen ungestörtes Gebirgspanorama, eine Aussicht wie ein Gemälde von Segantini. „Als wären wir die ersten gewesen, die hier gebaut haben“, schliesst Bearth den bebilderten Rundgang durch dieses aussergewöhnliche Wohnhaus.

Architekturpreis BETON 20/21: Unterhaltsstützpunkt Bernina
Der Berninapass, 2328 Meter über Meer, verbindet Norden und Süden, bildet die Hauptverkehrsader zwischen dem Oberengadin und dem Puschlav. Ein seit dem Mittelalter wichtiger Übergang, eine Sprachgrenze, eine Wassergrenze, ein Ort der Wasserkraft: der Lago Bianco produziert Strom, der sowohl nach Italien als auch nach Hamburg transportiert wird. „Es ist ein magischer Ort, eine gewaltige Natur-landschaft, aber auch eine urbanisierte Landschaft, mit Telefonstangen, der RhB-Linie, Hochspannungs-masten, Häusern, der Strasse, dem wunderbaren Hospiz-Gebäude aus den 1890er Jahren“, schwärmt Bearth. Die Landschaft zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Darauf musste Rücksicht genommen werden. Ansonsten waren die Vorgaben der Bauherrschaft die für ein Unterhaltsgebäude üblichen. Eine Auflage bzw. einen Wunsch allerdings gab es, und zwar, das Gebäude in Holz zu bauen, weil infolge eines politischen Entscheids alle Unterhaltstützpunkte im Kanton Graubünden in den letzten 30 Jahren in Holz gebaut wurden. „Das ist legitim, das kann man so machen“, meint Bearth, hier aber hätten sie argumentiert, das man deutlich oberhalb der Baumgrenze sei und sich baukulturell an einem Ort befinde, wo es mehrheitlich Steinbauten (Infrastrukturgebäude) gebe. 

Guido Baselgia, Unterhaltsstützpunkt Bernina, Siloturm, 07.03.2020, 08:00h

Während seines Vortrags zeigt Valentin Bearth immer wieder Bilder des Fotografen und Künstlers Guido Baselgia, mit dem er für das Projekt der Camera obscura eng zusammengearbeitet hat. Der Engadiner dokumentierte während 2-3 Wintermonaten immer wieder die Landschaft auf dem Berninapass und das Gebäude im Kontext dieser Landschaft. Entstanden sind wunderbare Bilder, welche die Rauheit und Poesie dieses Ortes einfangen und reizvolle, sphärische Stimmungen vermitteln, wie sie durchaus auch in der Arktis zu finden sein könnten. Baselgias Bilder werden, zusammen mit Texten von Philip Ursprung und Reto Hänny, Mitte September in einem Buch veröffentlicht.

Ausgangslage für den Zweckbau
Unterhaltsstützpunkte befinden sich normalerweise am Fuss eines Passes. Dass dieser hier auf der Passhöhe gebaut wurde, hat mit den oft aussergewöhnlich hohen Schneemassen zu tun – den Schnee von oben nach unten zu pflügen, ist rein physikalisch einfacher. Die Sichelform des Baus ergab sich aus der vorhandenen räumlichen Situation. Das Hauptgebäude mit den Garagen, dem Silo-Einfüllraum, der Waschanlage und den beiden Wohnungen wurde quasi in die Topografie hinein gebettet, ideal, um eine möglichst kleinflächige und klimatechnisch optimale Fassade zu erhalten. Als Schutz für die Fassade, aber auch vor starken Verwehungen, dient eine 2.5 m breite Kolonnade, ein gedeckter „Säulengang“ mit von unten offenen Pfeilern, durch die man überdacht hindurchgehen kann.

Guido Baselgia, Unterhaltsstützpunkt Bernina, 05.03.2020, 17:30h

Bauen neben dem „Eiffelturm“
Starkstrommasten faszinierten Valentin Bearth schon als Bub. „Diese Faszination ist geblieben, und es ist toll, und das hat man auch nicht alle Tage, dass man am Fuss eines kleinen Eiffelturms bauen kann.“ Das hatte also etwas durchaus Reizvolles, bedingte aber, aus Sicherheitsgründen die Einhaltung einer gewissen Distanz, vor allem für die beiden Arbeiter-Wohnungen, die rechts und links am Ende des Gebäudes einliegen. Die Sicht aus den Wohnungen geht so übers Kreuz und bedient eine gewisse Kontrollfunktion. Der Bauplatz war übrigens nicht erschlossen. Wasser und Elektrizität mussten hingeführt werden, fünf 150 Meter tiefe Sonden holen Wärme aus dem Boden. Die Räume sind Arbeitsräume. Im Sommer wird hier der Strassenunterhalt vorbereitet. Die Fassade, die nach Südwesten ausgerichtet ist, hält die Temperatur auch im Winter bei 12 Grad, gerade warm genug, damit die Maschinen nicht einfrieren. Gebaut wurde in zwei Saisons, jeweils Mai bis November. Es sei eine anspruchsvolle Baustelle gewesen mit nicht immer tollem Wetter aber wunderbaren Baumeistern. Im Betongiessen stecke viel Handarbeit und diese werde immer von Menschen geleistet, lobt der Architekt. 

Kies, Salz und eine Camera obscura
Das Silo fasst 400 m3 und ist in zwei Hälften geteilt für die Aufbewahrung von Salz und Kies. In der Regel werden solche Silotürme neben die Unterhaltsgebäude gestellt, Bearth + Deplazes haben ihn inkludiert, nicht zuletzt aus Witterungsgründen. Überraschend ist, dass der Turm nicht gründet, sondern „aufgehängt“ ist. Paradoxie par excellence und wunderbare Ingenieurarbeit, nennt Bearth das. Die Konstruktion ist ein hölzerner Trichter, zweischalig, inwendig schützt eine 6 cm dicke Holzwand den Beton vor dem Salz. Der oberste Teil des Turms, ein dunkler, fensterloser Raum, funktioniert als Camera obscura. Durch eine 2 cm kleine Öffnung nach Südwesten zum Cambrena-Massiv hin, wird das Bild der Landschaft auf die konkave bzw. konvexe Innenwand des Raums projiziert. Es dauert eine Weile, bis sich das Auge des Betrachters an das seitenverkehrte, auf dem Kopf stehende Bild gewöhnt und sich dieses schärft. Ein Ort der Kontemplation – für dessen Einbau das Architekturbüro selbst Geld gesammelt hat. Eine Camera obscura gehört nicht zur Ausstattung eines Unterhalts-Zweckbaus. Immerhin finanzierte die Bauherrschaft den zusätzlichen Raum als Reserveraum für Split, sollte die Camera obscura nicht funktionieren. Nun, sie funktioniert! „Der Raum hat etwas Sakrales, man ist hier wirklich mit dem Universum verbunden. Das Bild an der Wand ist wie ein Panorama. Hier sind wir wieder bei Segantini, der in Maloja im runden Atelier arbeitete. Das hier ist eine direkte Hommage an ihn.“ Mit diesen Worten schliesst Valentin Bearth sein Referat, und die Zuhörerschaft möchte sofort ins Engadin reisen und im Tourismusbüro Val Poschiavo eine Besichtigung der Camera obscura buchen. 

https://www.cameraobscura.ch/de/

Guido Baselgia, Lichteinfälle II, Teil 1, Camera obscura, Sonnenlauf, 30.12.2019, 11:30 – 14:42h, 
8 Tage nach der Wintersonnenwende

Unterhaltsstütpunkt Bernina: Wettbewerb und Jurybericht
Der durchgeführte selektive Projektwettbewerb hat grosses Interesse bei Architekten und Fachplanern aus der Schweiz und dem angrenzenden europäischen Raum ausgelöst. Ziel des Projektwettbewerbs war die Ermittlung eines Architekturbüros, welches einerseits für die Entwicklung eines architektonisch innovativen, effizienten und flexiblen Unterhaltsstützpunkts für das Tiefbauamt Graubünden qualifiziert ist, und andererseits die Realisierung in der geforderten Qualität und Wirtschaftlichkeit sowie die Einhaltung der Kosten- und Terminvorgaben garantieren kann.
Die Regierung beauftragt für den Bau des neuen Unterhaltsstützpunktes auf dem Berninapass das Churer Architekturbüro Bearth & Deplazes. Ihr Projekt «CAMERA OBSCURA» setzte sich gegen 60 weitere Bewerber durch. Laut Jurybericht besticht das Siegerprojekt durch seine interessante Auseinander-setzung mit der Landschaft. Die Natur verbindet sich mit dem Gebäude, in dem beispielsweise alle Räume erdüberdeckt werden. Die Gesamtkosten für den Neubau belaufen sich auf rund 10 Millionen Franken.
(Quelle: https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/diem/hba/planen-bauen/wettbewerbe/Seiten/Stp-Bernina.aspx)

Kredits:

Bauherrschaft: Kanton Graubünden, vertreten durch das Hochbauamt Graubünden
Nutzer/Betreiber: Kanton Graubünden, vertreten durch das Tiefbauamt Graubünden
Architektur: Bearth & Deplazes Architekten AG, Chur Valentin Bearth, Andrea Deplazes, Daniel Ladner
Bauingenieur: Ferrari Gartmann AG, Chur, Emanuela Ferrari
Umweltingenieurin: Nina von Albertini, Paspels
Fotografie: Guido Baselgia, Malans
Die 3 Fotografien im Bericht sind dem Buch von «Guido Baselgia/Bearth&Deplazes – Bernina Transversal» entnommen, das eben im Verlag ParkBooks erscheint.

Architekturpreis Beton 20/21
Mit dem Architekturpreis Beton werden alle vier Jahre architektonisch herausragende Gebäude ausgezeichnet, bei denen der Baustoff Beton in seinen vielfältigen Ausdrucks-möglichkeiten eingesetzt wurde. 175 Eingaben wurden 2021 eingereicht. Die Jury unter dem Vorsitz von Elli Mosayebi vergab nebst dem Hauptpreis Auszeichnungen an:
– Penzel Valier für den Neubau SRF Campus Zürich
– Harry Gugger Studio für den Umbau des Silos Erlenmatt in Basel
– Nickisch Walder für das variabel nutzbare Zweifamilienhaus Sulten in Flims
– Das der ETH Zürich angegliederte interdisziplinäre Planungskollektiv des NFS Digitale Fabrikation um Matthias Kohler und Konrad Graser für die innovativen Ansätze im DFAB HOUSE auf dem NEST-Gebäude in Dübendorf.
Ein Förderpreis ging an Inches Geleta Architetti Sagl für das Projekt Palazzo Pioda

Download SN-Artikel vom 3.9.21: Beton 21: Ein Werkhof am Berninapass als neues Wahrzeichen

Eindrücke der Vernissage festgehalten von Pierre Néma: