Neues Bauen im Orient und am Rhein

Bericht über die Veranstaltung „Tel Aviv – weisse Stadt… die Architektur der Moderne“ vom 20. September 2016
In Tel Aviv bot sich jungen Architekten in den 1930er Jahren ein einmaliges Experimentierfeld für das „neue Bauen“. Auch in Schaffhausens Stadtbild wurden damals modernistische Akzente gesetzt. Eine Veranstaltung des Schaffhauser Architektur Forums und der Gesellschaft Schweiz-Israel thematisierte diesen Aufbruch in die Moderne. Es referierten Micha Gross, Leiter des Bauhaus Centers Tel Aviv, und Ueli Witzig, alt-Stadtbaumeister Schaffhausen.
 
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„In keiner anderen Stadt gibt es so viele Gebäude der frühen Moderne wie in Tel Aviv“, betonte Gross. Während andernorts, also auch in Schaffhausen, einzelne Gebäude im neuen Baustil erreichtet wurden, entstand in Tel Aviv ein ganzes Geflecht. Tel Aviv ist aus der alten Hafenstadt Jaffo hervorgegangen, wo sich jüdische Einwanderer zunächst mitten im arabischen Stadtkern niederliessen. Doch nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Einwanderung jüdischer Siedler in das damals britische Mandatsgebiet fast explosionsartig zu. 1920 zählte Jaffo rund 2000 Einwohner, 1948 lebten hier bereits 248’000. In einer Generation hat sich die Bevölkerung also mehr als verhundertfacht!
 
Planmässige Entwicklung einer Garten-Grossstadt
Nun könnte man erwarten, dass Wohnraum für diese massenhaft Zugewanderten völlig chaotisch aus dem Boden schoss. Dem war aber nicht so, wie Gross ausführte. Vielmehr ist das moderne Tel Aviv das Ergebnis planmässiger Stadtentwicklung. Das erste Quartier, das um 1909 entstand, basierte auf der Idee der Gartenstadt des Briten Ebenezer Howard. Ende der 1920-er Jahre beauftragte dann der Bürgermeister von Tel Aviv Meir Dizengoff den schottischen Stadtplaner Patrick Geddes, den Bauboom in geordnete Bahnen zu lenken. Bei der Gliederung des Baugebietes in sogenannte Homeblocks mit Grünraum im Inneren nahm Geddes die Gartenstadtidee in neuer Form auf. So entstand weltweit einmalig eine Grossstadt als Gartenstadt, ein Ensemble aus freistehenden Gebäudestrukturen, das junge, dem neuen Bauen verpflichtete Architekten prägten.
 
Vier Vorbilder
Inspiriert waren diese Architekten laut Gross von vier Vorbildern: Vom Dessauer Bauhaus, von den Architekten Erich Mendelsohn und Le Corbusier sowie von den Architekturschulen belgischer Universitäten, wo viele auch ihre Ausbildung absolviert hatten. Mendelsohn führte zeitweise ein Architekturbüro in Jerusalem. Am Bauhaus und bei Le Corbusier arbeiteten viele jüdische Studenten, die deren Ideen nach Tel Aviv brachten. Warum so viele belgische Architekten in Tel Aviv tätig waren, ist laut Gross unklar. Insgesamt errichteten sie rund 4000 Gebäude im frühen modernen Baustil, wovon die Hälfte unter Denkmalschutz steht. Das Ensemble, die „Weisse Stadt“, wurde 2002 ins UNESCO-Welterbe aufgenommen.
 
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Moderne Akzente in der Schaffhauser Altstadt
Im Gegensatz zu Tel Aviv war Schaffhausen eine weitgehend gebaute Stadt, als das neue Bauen Einzug hielt. So blieben die Zeugen aus dieser Zeit Einzelwerke, deren wichtigste alt-Stadtbaumeister Ueli Witzig vorstellte. Bemerkenswert ist, dass modernistische Neubauten nicht nur auf der grünen Wiese, sondern auch mitten in der Altstadt entstanden. Ein Beispiel dafür ist das 1929 von Eduard Lenhard erbaute Orient, eine ehemaliges Kino und heutiges Eventlokal (in dem übrigens die SCHARF-Veranstaltung stattfand). Trotz völlig neuartiger, funktionaler Formensprache fügt sich das Gebäude gut ins altstädtische Umfeld ein. Dies im Gegensatz zum Scalahaus (Keust & Simmler), dem heutigen Kiwi-Kino. „Mit seinen sechs Geschossen ist es neben den kleineren Altstadthäusern ein extremer Bau“, urteilt Witzig. Es stiess denn auch schon zur Bauzeit auf heftige Proteste. Am Rand der Altstadt steht ferner ein bemerkenswerter Zweckbau in bester Bauhaustradition, die City-Garage, die allerdings im Lauf der Zeit zunehmend verunstaltet wurde.
 
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Eine Domäne der Linken
Die wichtigsten Zeugen des modernen Bauens in Schaffhausen sind nebst dem GF-Verwaltungsgebäude im Mühlental (Karl Moser) öffentliche Gebäude wie das Gelbhausgarten-Schulhaus (Lenhard & Hagen) sowie die Turnhallen Emmersberg und das Kinderspital (beide Scherrer & Meyer).
 
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Modernistische Architektur hatte ihren Ursprung nicht zuletzt in sozialen Utopien und war daher eine Domäne der linken Avantgarde. In Tel Aviv, wo aus einer Utopie Realität wurde, oder im sozialdemokratischen Schaffhausen der Bringolf-Ära stiess sie auf grosse Akzeptanz.
Dass das neue Bauen beim Volk dann doch in Verruf geriet, erklärt Witzig nicht zuletzt mit den Querelen um die massiven Kostenüberschreitungen beim Bau des Gega-Schulhauses. Gegen Ende der 1930-er Jahre, so der Alt-Stadtbaumeister, sei das neue Bauen mit seinen klaren Ausformung dann ausgelaufen.
 
Link zur Veranstaltung: 20. September 2016: Tel Aviv „Weisse Stadt“… die Architektur der Moderne
Download: Bericht SN vom 22.09.2016 Modernistisch Bauen in Schaffhausen