Den Blick schärfen für neue Wohnformen

WOHNFORMEN: Bericht über den Ausflug nach Regensdorf und Winterthur, 25.3.2017
Mit der Serie „Wohnformen“ will SCHARF sensibilisieren für neue Wohnformen. Ein Ausflug führt eine Gruppe ArchitektInnen und am Wohnen Interessierte in eine Plattenbausiedlung nach Regensdorf und in ein Mehr-Generationen-Haus nach Winterthur. Die erste Station zeigt, wie stark sich das soziale Gefüge einer Siedlung verändern kann, die zweite Station ist ein Beispiel für die Vorteile und Herausforderungen des modernen Wohnens.
Ein Paradies für Familien war die Sonnhalde einst. Auf den grünen Hügeln tobten sich Kinder aus, die Eltern trafen sich zum Jassen oder im Volg. Ein hippes Quartier, man durfte stolz sein, hier zu wohnen. Heute ist davon nicht mehr viel übrig; auch das leuchtende 60er-Jahre-Orange des Sonnhalde-Logos täuscht schwerlich über die Trostlosigkeit hinweg. Mit Graffitis vollgesprayte Betonwände ragen in die Höhe, irgendwo stehen ein paar kaputte Stühle, vereinzelte Menschen laufen durch den Nebel. Die Wende kam in den 90ern, als die Siedlung verkauft wurde. Einzelwohnungen entstanden und man achtete nicht mehr auf eine Einheit. Bald verwandelte sich die Siedlung zu einem von Fluglärm geplagten „Problemquartier“, wo die Polizei regelmässig Schlägereien schlichtete.

„Von der Siffhalde zur Sonnhalde“
Max Walter findet deutliche Worte: „Die heutige Sonnhalde ist ein Schandfleck.“ Walter ist Gemeindepräsident von Regensdorf und seit einigen Jahren massgeblich an der Aufwertung des Quartiers beteiligt. Im Zuge des Bundesprojektes „Projets urbains“ soll die Siedung „von der „Siffhalde“ wieder zur Sonnhalde werden“, wie man sich in Regensdorf sagt. Dazu errichtete die Gemeinde ein Begegnungszentrum, das von der Sozialarbeiterin Andrea Jörg geleitet wird und die BewohnerInnen aktiv involviert. Es gibt Grillfeste, Spielplätze werden langsam restauriert und bald sollen Arkaden mit südländischem Flair das von der Gemeinde aufgekaufte Quartierzentrum schmücken.
Rückzug in die eigenen vier Wände
Es bleibt die Frage, wie es möglich ist, dass eine Siedlung derartige Höhen und Tiefen durchleben konnte. In den Anfängen wurde hier eine Durchmischung gelebt, heute findet sie nur noch über die Kinder statt. Damals wohnten hauptsächlich Schweizer Familien in der Sonnhalde, jetzt sind es 48 Nationen. Die SchweizerInnen, die etwa 60% ausmachen, bestehen vor allem aus älteren Generationen, Familien sind bei den AusländerInnen zu finden. Jörg meint, es gäbe kaum junge SchweizerInnen, die hierher ziehen wollen. In solchen Situationen werden Parallelen zu Schaffhauser Quartieren, wie beispielsweise dem Birch, ersichtlich. Dieses bietet günstigen Wohnraum und wird vermehrt von AusländerInnen bezogen, eine soziale Durchmischung findet immer weniger statt. Jörg ortet die Gründe für die Veränderung solcher Siedlungen bei einem gesellschaftlichen Wandel im Allgemeinen: Beide Eltern arbeiten, die Leute verbringen lieber Zeit in den eigenen vier Wänden, die Nachbarschaftshilfe und die Bereitschaft zum selbst Anpacken nehmen ab. Trotzdem – oder gerade deswegen – betont sie, wie wichtig eine offene Architektur ist, die ein Miteinander erlaube, für diejenigen, die sich das wünschen. Aber sie fügt an: „Vielleicht sind die Leute einfach nicht mehr so offen, wie wir uns das wünschen.“
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Zeitgenössisches Wohnen
Wer den Innenhof der Giesserei, des Mehr-Generationen-Haus in Winterthur, betritt, zweifelt kaum an der Offenheit der Menschen. Einige BewohnerInnen geniessen auf Liegestühlen die Sonne, während Kinder nebenan lauthals „Happy Birthday“ singen. Die Giesserei zeigt, wie zeitgemässes Wohnen geht und bietet Ideen, die durchaus auch in Schaffhausen umsetzbar wären.
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Die Giesserei, das Produkt einer Vision des Vereins Mehrgenerationenhaus unter dem Dach der Gesewo, bietet Menschen aller Altersgruppen bezahlbaren Wohnraum. Seit ihrer Entstehung 2013 basiert die Giesserei auf der Idee des altersdurchmischten, selbstbestimmten und selbstverwalteten Wohnens. In den zwei Flügeln dieser Holzhaussiedlung gibt es Gewerbeflächen, wo beispielsweise die Stadtbibliothek oder eine Velowerkstatt angesiedelt sind und 151 Wohnungen unterschiedlichen Aufbaus. Sie richten sich nach den individuellen Bedürfnissen der BewohnerInnen.
„Wie im richtigen Leben auch“
Gemeinsam ist diesen der Solidaritätsgedanken: Wer in der Giesserei wohnt, bringt die Bereitschaft mit, offen auf andere zuzugehen und in die Gemeinschaft zu investieren. So leisten alle jährlich 28 Gemeinschaftsstunden, sei dies in Form von Hausführungen, Putzarbeiten oder dem Organisieren von Anlässen in einem der zahlreichen Gemeinschaftsräume, wie beispielsweise dem Theatersaal oder der Pantoffelbar. Diese stehen allen offen und werden rege genutzt. Unweigerlich führt die Ausgestaltung dieser Räume zu Konflikten – „wie im richtigen Leben eben auch“, lacht Kurt Lampart, ein engagierter Bewohner. Es ist schön, zu sehen, wie ehrlich Lampart auch über die Herausforderungen dieser Wohnform berichtet und somit genau die Offenheit lebt, die von den BewohnerInnen erwartet wird. „Nicht nur die Architektur selbst, sondern auch die Aufgaben, die man hat, erfordern es, dass man mit den NachbarInnen in Kontakt tritt und das Zusammenleben aushandelt“, berichtet Yvonne Lenzlinger. Die Bewohnerin schätzt es, dass sie, die zur älteren Generation gehört, in der Giesserei nicht anonym wohnt und trotzdem keiner sozialen Kontrolle ausgesetzt ist. Wenn sie sagt, sie sei stolz, hier wohnen zu dürfen, so lässt einen das aufhorchen.
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Zusammenhalt zwischen Generationen stärken
Hiess es damals bei der Gründung der Sonnhalde nicht, dass die BewohnerInnen stolz waren, dort zu wohnen? Man fragt sich, ob dasselbe Schicksal die Giesserei ereilen könnte? Im Moment scheint das Konzept auf jeden Fall zu begeistern.
Schaffhausen, das mit seinen Wohnformen noch gar einseitig ist, würde viel Potential bieten fürs Mehrgenerationen-Wohnen, beispielsweise auf dem Wagenareal. Denn auch wenn es eine gewisse gesellschaftliche Tendenz zum Rückzug in die eigenen vier Wände geben mag, so ist es doch eine Tatsache, dass – gerade in Schaffhausen – ein Mangel an Betreuungsplätze für Kinder besteht und gleichzeitig Menschen älter werden und somit mehr Zeit haben, die sie teilen können. Das Mehrgenerationenwohnen könnte diese Entwicklung aufgreifen und das Zusammenleben zwischen den Generationen stärken. Nun besteht die Herausforderung darin, diese Vorteile einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen – ganz so, wie SCHARF dies mit der Reihe „Wohnformen“ beabsichtigt.
Link zur Einladungskarte WOHNFORMEN Ausflug nach Regensdorf und Winterthur, 25.3.2017
Link zum Bericht über den Film «The Infinite Happiness»