Das SCHARF Schaffhauser Architektur Forum, lud am 24. November 2024 ein zur Vorführung des neuen Schweizer Films «Greina» und einer anschliessenden Podiumsdiskussion. «Greina» ist dem künstlerischen und aktivistischen Engagement des Architekten Bryan Cyril Thurston gewidmet.
Text und Bilder: Manuel Pestalozzi*

↑ In Schaffhausen wurde «Greina» im Kino Kiwi Scala vorgeführt. Er wird auch an den Solothurner Filmtagen 2025 zu sehen sein.
Unter Wildnis wird gemeinhin ein Territorium verstanden, in dem der Mensch im Moment nur selten oder gar nicht ordnend Hand anlegt. Sie ist der Gegenpol zur Zivilisation. Die Attraktivität der Wildnis ist in die Kulturgeschichte des Menschen tief eingeschrieben. Sehnsucht und Furcht halten darin ein prekäres Gleichgewicht. Mit der Greina fand der Brite Bryan Cyril Thurston, geboren 1933 und seit mehr als einem halben Jahrhundert im südlichen Kanton Zürich ansässig, «seine» Wildnis. Der Architekt und Künstler ging mit ihr eine lange und intensive Beziehung ein. Diese steht im Zentrum des Films «Greina». Die Rede ist von einer «Verinnerlichung», wobei nicht ganz klar ist, ob Bryan die Greina verinnerlicht hat oder die Greina Bryan. Es sind beide Interpretationen möglich. Der Film lässt sie zu und gibt ihnen den selben Wert. Sie können schliesslich auch friedlich koexistieren.
Bryan Cyril Thurstons Wahl der Wildnis wird biographisch begründet: Die weite, baumlose Geländesenke mit dem mäandrierenden Somvixer Rhein, hoch über den schroffen Tälern an der kontinentalen Wasserscheide gelegen, erinnert ihn an die Cairngorms. Das Gebirge in den Highlands von Schottland schloss er in seiner Jugend ins Herz. Nachdem er der Liebe wegen in die Schweiz zog, entdeckte Bryan Cyril Thurston im Bündner Alpenraum diesen ebenbürtigen Ersatz. Hier fand er, in vertretbarer Reichweite zum Wohnort und zur Erwerbstätigkeit, Inspiration für seinen starken kreativen Schaffensdrang. Die Greina zeichnet sich aus durch viel Himmel und wenig Schattenwurf. Die Farbpalette ist beschränkt, umso reicher dafür die Auswahl an Tönungen. Ein Freiluftatelier, das selbst auch gleich Modell steht – so könnte man die Bedingungen für Kunstschaffende nennen. Und so nutzt Bryan Cyril Thurston diese karge Landschaft: Er malt sie, ritzt sie mit der Kaltnadel in Kupferplatten, bildet sie ab in grossen Tableaus, kleinen Aquarellen oder Collagen.

↑ Wie der dargestellte Künstler Bryan Cyril Thurston reduzierte auch der Film einen Naturraum zu einer zweidimensionalen Darstellung.
Berührungen und drohende Verletzungen
Der Film zeigt den heute hochbetagten Künstler daheim bei der Arbeit, wobei die Radierung im Vordergrund steht. Obwohl die Tätigkeit als Architekt nur am Rand kurz erwähnt wird, ist die Verwandtschaft dieser Drucktechnik mit der Planzeichnung unverkennbar. Mit Linien und Schraffuren dokumentieren die Radierungen dreidimensionale Gebilde. Das Filmteam liess die Kamera langsam über sie hinweggleiten, begleitet von den Klangstrukturen des berühmten britischen Komponisten und Musikers Fred Frith – seinerseits ein Liebhaber der Cairngorms, der sich deswegen erstaunlich leicht für das Schweizer Projekt gewinnen liess. Der Biobauer Franco Vanzetti aus dem Bleniotal, ein langjähriger Freund, kommt zu Wort. Er beteuert, dass die Liniengebilde ganz bestimmte Orte in der Greina unverwechselbar erkennen lassen. Das Publikum erhält Gelegenheit, über Minuten in diese vielseitige, unendlich scheinende Welt der Spalten, Kanten und nackten, teils mit Geröll und spärlicher Vegetation bedeckten Oberflächen einzutauchen.
Im späteren 20. Jahrhundert geriet die Unversehrtheit der Greina ernsthaft in Gefahr. Zwar war sie seit Menschengedenken nie vollkommene Wildnis. Schon die Römer nutzten den Greinapass am westlichen Rand der Ebene, die Alpwirtschaft ist auch präsent. Doch mit der Industrialisierung drohte der Verlust dieser Landschaft durch Wasserkraftwerksprojekte mit einem Stausee. Ab den 1970er-Jahren machte Bryan Cyril Thurston auf den drohenden Verlust landesweit aufmerksam; der Architekt und Künstler wurde zum Aktivisten, vielleicht auch zum Apostel, der sich für den Erhalt der Landschaft und gegen das Kraftwerksprojekt einsetzte. Der Einsatz war erfolgreich; der Widerstand unter der Leitung von Hans Wyss, dem Landschaftsschutz-Beauftragten des Kantons Graubünden, führte zur Unterschutzstellung der Hochebene. Mit seinen grafischen Darstellungen des Gebiets sicherte sich Bryan Cyril Thurston in dieser kämpferischen Rolle einen Platz in der Schweizer Geschichte. Der Film beginnt denn auch in den Eingeweiden der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern. In dessen riesigem unterirdischem Archivlabyrinth lagern heute auch die Unterlagen der damaligen Kampagne und der schöpferische Nachlass des gebürtigen Briten.

↑ Nach der Vorführung beteiligten sich der Regisseur Patrick Thurston (Mitte), eine Künstlerin aus Schaffhausen und ein Freund des vor kurzem verstorbenen Hans Weiss. Es moderierte Christian Wäckerlin, Präsident des SCHARF (links).
Drei Architekten
Der politische Kampf um den Landschaftsschutz mit künstlerischen Mitteln ist im Film präsent in der Form von Fernsehbeiträgen aus dem Archiv. Einer von ihnen dokumentiert die Befindlichkeit im nächstgelegenen Dorf Vrin in den 1980er-Jahren. Seinen Auftritt hat dort auch ein junger Bewohner, der später als Architekt Schlagzeilen machen sollte: Gion A. Caminada. Für «Greina» liess er sich nochmals vor die Kamera locken. Dort bestätigte er, dass die Tätigkeit von Bryan Cyril Thurston in Vrin durchaus einen Resonanzboden fand und sich manche mit dem Gedanken anfreunden konnten, im Dorf auch eine Zukunft ohne die diversen Segnungen des angekündigten Kraftwerks zu wagen. Das gilt nicht zuletzt auch für Gion A. Caminada selbst, der in Vrin verschiedene Projekte realisierte und dessen «Basis» sich nach wie vor in der Region befindet.
Der dritte Architekt in «Greina» ist der Filmemacher, Bryan Cyril Thurstons Sohn Patrick Thurston. Er betreibt in Bern ein Büro und ist auch im Film eine konstante Präsenz. Es ist bald klar, dass ein Hauptthema des Films die Suche nach einem besseren Verständnis des Vaters ist, dessen konstante schöpferische Tätigkeit auch mal als «Manie» bezeichnet wird. Die Greina, auf die Patrick Thurston seinen Vater in der Jugend auch begleitete, hat als Wildnis in dieser Beziehung die zivilisatorische Funktion eines Katalysators. Über die Greina – und über den gleichnamigen Film – scheinen die beiden zueinander zu finden. In der Interpretation der Wildnis liegt das Vermächtnis des Vaters. Patrick Thurston beteiligte nach der Vorführung an einem kurzen Podiumsgespräch, das von SCHARF-Präsident Christian Wäckerlin moderiert wurde. Auf dem Podium sassen ausserdem die Künstlerin Katharina Bürgin aus Schaffhausen und der Arzt Thomas Diem, in Vertretung seines vor wenigen Wochen überraschend verstorbenen, im Film noch als Interviewpartner auftretenden Freundes Hans Weiss. Das Gespräch drehte sich um das, was in der Vergangenheit geschaffen wurde, unter anderem auch Veranstaltungen und Ausstellungen mit Bryan Cyril Thurston in der Vebikus Kunsthalle, die als präzise vorbereitete Performances in Erinnerung blieben. Dieses kreative, oft aktivistische Schaffen hat auch eine Bedeutung für die Gegenwart; immerhin wurden am Tag der Filmvorführung durch das Stimmvolk mehrere Autobahn-Erweiterungsprojekte abgeschmettert – auch eines für Schaffhausen.
Patrick Thurston meinte am Ende des Podiumsgesprächs, das Erbe seines Vaters bestehe in der Botschaft, dass die Schöpfung nie fertig sei und dass alle die Aufgabe hätten, jeden Tag gewissenhaft an ihr zu arbeiten. Unweigerlich fühlte man sich beim Zuhören ans Pfadfinder-Motto «jeden Tag eine gute Tat» erinnert, ein weiterer Kulturimport aus den Britischen Inseln. In der fortwährenden Beharrlichkeit sieht Patrick Thurston die poetischen Werte des Bryan Cyril Thurston, die er mit «Greina» auch als Auftrag an das Publikum weitergeben möchte.

↑ Filmemacher und Architekt Patrick Thurston gab nach der Vorführung bereitwillig Auskunft über die Befindlichkeiten, welche das Projekt begleiteten.
* Manuel Pestalozzi, dipl. Arch. ETHZ und Journalist BR SFJ, betreibt die Einzelfirma Bau-Auslese Manuel Pestalozzi
Nun wird der Film auch als DVD erhältlich sein. Die Auslieferung ist ab dem 5. Dezember 2024 geplant. Wenn Sie den Film schenken möchten, kann dieser unter folgendem Link bei Trigon bestellt werden: https://shop.trigon-film.org/de/DVD/Greina