«Alternativen zum Abriss – weiternutzen und weiterbauen»

Eine Kooperation von SCHARF und ZAS*

Kulturzentrum Kammgarn, Schaffhausen
Donnerstag, 21. September 2023

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PROTOKOLL

Begrüssung

  • Christian Wäckerlin vom SCHARF stellt die ZAS* (Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau) vor, die 2022/2023 einen spekulativen Ideenwettbewerb zu den drei ehemaligen Personalhäusern des Stadtspitals Triemli in Zürich durchgeführt hat. Das ‹Stadthotel Triemli› sollte abgebrochen werden, doch 45 Wettbewerbsbeiträge zeigen, was in den Türmen alles möglich wäre: zu den Wettbewerbsbeiträgen.
  • Die Kooperation von SCHARF und ZAS* erfolgt aus aktuellem Anlass: In Schaffhausen habe «ein politischer Systemfehler» innert kürzester Zeit zum Abriss des alten Pflegezentrums geführt, sagt Wäckerlin. Dabei müsse es angesichts der Klimakrise darum gehen, Gebäude weiterzunutzen – wie auch immer.
  • Die Beispiele aus Zürich und Schaffhausen sind Teil einer schweizweiten Nachkriegs-Spitalbauten-Abriss-Debatte, die ‹Hochparterre› seit Frühling 2024 beleuchtet: zur ‹Operation Spital›.

Abriss in Schaffhausen

  • Pierre Néma vom SCHARF stellt vier Beispiele aus Schaffhausen vor und arbeitet die Mechanismen heraus, die zum Abriss der Bauten führen / geführt haben oder zu deren Weiterleben:
  • Der Abriss des Pflegezentrums ist im Gange. Ursprünglich sei das Ziel ein Bildungszentrum auf dem Geissberg gewesen, doch nachdem mit einer Abstimmung entschieden worden sei, dass die Pädagogische Hochschule ins Kammgarn soll, habe das gleichzeitig den Abbruch des Pflegezentrums bedeutet. Heimatschutz und WWF hätten Einsprache gegen das Abbruchgesuch eingereicht, erfolglos. Die ‹Schaffhauser Nachrichten› schrieb, die «Bruchbude» gehöre abgerissen. Die Diskussion sei erst dann entbrannt, als der Abbruch durch einen politischen Deal bereits entschieden war.
  • Beim Zeughaus auf der Breite habe es einen Letter of Intent (LoI) zwischen Stadt und Kanton gegeben, Raum für eine städtebauliche Transformation = Abbruch des Zeughauses zu schaffen. Der Heimatschutz habe einen Flyer an die Kantonsräte adressiert, der für viel Wirbel sorgte. Auf den politischen Vorstoss hin sei der LoI aufgehoben worden. Nun müsse man abwarten, es sei aber noch nichts entschieden.
  • Anstelle des Hallenbads KSS von Ernst Gisel (Baujahr 1972) sei ein Ersatzneubau vorgesehen, da dieses als betrieblich «obsolet» beurteilt worden sei. Seitdem hängt über dem Baudenkmal ein Damoklesschwert. Demgegenüber stehe ein alternativer Nutzungsvorschlag für «schulische Nutzungen», dem auch eine sinnvolle Einbindung den Bauwerks in den Alltag des Quartiers wichtig sei.
  • Der alte Wasserturm auf dem ehemaligen Areal der ‹Georg Fischer› habe es geschafft. Nach einer Machbarkeitsstudie für die Nutzung des Wasserturms im Jahr 2018 sei dieser trotzdem aus dem Verzeichnis der schützenswerten Kulturdenkmäler der Stadt Schaffhausen (VKD) entlassen worden, um die «Voraussetzungen» für den neuen Werkhof Grün Schaffhausen zu schaffen. Doch auf Instagram traten zwei selbsternannte Turmretter auf den Plan, die sich mit einer Petition für den Erhalt des Turms einsetzten. Im Gesamtleistungswettbewerb im Jahr 2023 gewann schliesslich ein Projekt, das den Wasserturm erhält: ‹Hochparterre› berichtete.

Spekulativer Ideenwettbewerb ‹Stadthotel Triemli›

  • Die ZAS* nennt die aktuellen Bestrebungen bei den Triemli-Türmen: Im Nachgang des Wettbewerbs gab es zwei Machbarkeitsstudien. Eine von der Stadt Zürich und eine von Sebastian Oswald (Mitwirkender im ZAS*): zur Machbarkeitsstudie. Die Studie stützt sich auf einzelne Wettbewerbsbeiträge und kommt zum Schluss, dass sich eine strategische Gebäudererneuerung ab einer Laufzeit von 20 Jahren lohnt. Gleichzeitig verfolgt die in Zürich ansässige ‹Klimagenossenschaft› das Ziel weiter, die Triemli-Türme von der Stadt als Testfeld zu erhalten.
  • Im Frühling 2024 wird bekannt, dass die Stadt Zürich die drei ehemaligen Personalhäuser des Stadtspitals bis 2040 «stadtintern» nutzen wird, da sich die aktuelle Nutzung durch die Asyl-Organisation Zürich (AOZ) bewährt.
  • Doch zunächst ein Sprung zurück: Ausgangspunkt für den spekulative Ideenwettbewerb sein ein Spaziergang mit Vertreterinnen der Stadt Zürich im Jahr 2021 gewesen, berichtet die ZAS*. Dabei habe sie erfahren, dass bei den drei Türmen ein «Abbruch auf Vorrat» geplant sei. Bereits in einer 2003 verabschiedeten Entwicklungsstudie kämen die Türme in der Spitalplanung nicht mehr vor. Da die Türme aber bereits mehrfach demonstriert hätten, dass sie verschiedene Nutzungen aufnehmen können, sei ein Abbruch nicht sinnvoll. Die Türme dienten schon als temporäres Altersheim oder auch als Studierendenwohnheim, Büros oder Arztpraxen und aktuell als Unterkunft für Geflüchtete. In ihrer Online-Kolumne auf Tsüri.ch plädierten sie Ende 2021 dafür, diese «Betonreserven am Triemli» zu aktivieren.
  • Da ihnen als «Bürger*innen» der Stadt Zürich diese Parzelle auch gehöre hätten sie schliesslich ungefragt gehandelt und einen spekulativen Ideenwettbewerb organisiert. Die Aufgabe: ein ‹Stadthotel›, ein Pufferort, wo unterschiedliche Nutzungen aufgenommen werden können. Gesucht waren Visionen und Ideen für die Um- und Weiternutzung der drei ehemaligen Personalhäuser.
  • 45 Teams aus dem In- und Ausland sind dem Aufruf gefolgt. Die Ergebnisse wurden öffentlich juriert und ausgestellt. Über 1000 Leute kamen in der Ausstellung vorbei. Das Medienecho war gross und hat dazu beigetragen, die Türme weiterzunutzen.

Welches Potenzial steckt im Bestand?

  • Die ZAS* hat vier teilnehmende Teams nach Schaffhausen eingeladen, die nun ihre Projekte aus dem spekulativen Ideenwettbewerb vorstellen:
  • Für die Arbeitsgemeinschaft um das Projekt ‹Hinterm Horizont› ist klar: «Das muss doch weitergehen, das ist doch WG.» Sie hat einen spassigen Film zu den Triemli-Türmen gedreht, indem sie durch den fiktiven Charakter von Udo Lindenberg sprechen: «Für mich ist jeder hier Experte.» Das Projekt schlägt vor, das Hotel als soziales Gefüge zu verstehen, für das ein Umdenken stattfinden muss. Erst dann erfolgen die gezielten architektonischen Eingriffe. Die drei Türme werden wie bisher als drei Häuser im Park verstanden. Ein wenig «Italianità». Um die Geschossfläche zu erweitern, dabei die Fassade energetisch zu sanieren und die Schaltbarkeit der einzelnen Räume zu erhöhen schlägt das Projekt eine neue modulare Schicht vor, die zudem alle neuen Leitungen enthält. Die Wohnungen liegen unter dem Schnitt heutiger Wohnungsgrössen, dafür stehen grosse Gemeinschaftsräume zur Verfügung.
  • Jens Knöpfel von der ZAS* fasst zusammen: Durch das Einführen des Charakters Udo Lindenberg ergibt sich eine neue Sicht auf die Türme. Die ästhetisch ungeliebten Türme sind plötzlich sexy.
  • Auch pool Architekten, ein Büro mit rund 100 Mitarbeitenden, hat am Wettbewerb mitgemacht. Das Projekt ‹Houses of Flux› erarbeitet haben sie mit etwa 10 Leuten. Zu Beginn stellten sie sich die Frage: Was macht das Triemli-Areal für die Stadt? Die Stadt für das Areal? Und: Was leisten die Bestandsbauten für das Areal? Kann man an ihnen weiterbauen? Ihr comic-artig illustrierter Vorschlag dekliniert verschiedene Möglichkeiten durch, die punktuell in die Struktur eingreifen, in Fugen und Nischen Räume ergänzen und nach Bedarf «Plug-ins» anfügen. Ihnen sei es immer um die Frage gegangen: Welche Raumqualitäten gibt es bereits? Was fehlt noch? Diese Denkweise und die Strategien, die sich daraus ergaben, lassen sich auf vergleichbare Bautypen übertragen.
  • Jens Knöpfel von der ZAS*: Ein Argument, warum die Türme abgerissen werden sollten, war immer wieder die rigide Struktur. In diesem Projekt wird die Struktur aber umgedeutet, ohne dass sie grundsätzlich angegriffen wird. «Plug-ins» sind auch in Bezug auf das Hallenbad KSS in Schaffhausen interessant.
  • Das Projekt ‹S, M, L, XL› hat sich aus einer «Nähe» zu den Türmen ergeben. Das Team OAEU wohnt in der unmittelbaren Nachbarschaft. Die Aufgabe des ‹Stadthotels›, eines «Orts für Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen, auf kurze oder längere Zeit», war für sie zentral, besonders, da die Türme schon immer unterschiedliche Nutzungen beherbergt haben. Bei näherer Betrachtung des Turminnern wurde ihnen klar: Die Grundrisse sind bereits schön. Die nutzungsneutralen Zimmer von 12-14 Quadratmetern, wie sie bei jedem zeitgenössischen Wohnungsbauwettbewerb gefordert werden, gibt es bereits. Durch das Hinzufügen einer Raumschicht wandelten sie die vermeintlich rigide Struktur in tolle Wohnungen in verschiedenen Grössen um. Dazu nahmen sie die rückbaubare Fassade einfach mal ab, dämmten sie nach und setzten sie wieder davor. Die Wohnungsgrössen richten sich an den vorgefundenen Schottenfeldern aus und liegen unter dem Zürcher Schnitt. Von den oberen Geschossen öffnet sich ein fantastischer Blick auf den Sonnenuntergang über Zürich-Altstetten. Zusätzlich gibt es eine gemeinschaftliche Sauna.
  • Jens Knöpfel, ZAS*: Der Bestandserhalt und die Frage nach den Wohnungsgrössen, die wir uns noch leisten können, gehen Hand in Hand.
  • Als letzte trat die ‹Klimagenossenschaft› mit dem Projekt ‹BITUTU› auf. Den Wettbewerb nutzten sie zur Standortevaluation: «eine Klimagenossenschaft, drei Türme». Die SCHARF-Veranstaltung zur Verdeutlichung ihres Gedankens: «In der Schweiz leben wir zurzeit mit drei Planeten – das sind zwei Planeten zu viel. Als die Triemli-Türme 1962 gebaut wurden, war die Schweiz eine 2000-Watt-Gesellschaft.» Die Türme eigneten sich ideal, um in Zürich den Versuch zu wagen, mit einem Planeten zu leben. In der Um- und Weiternutzung der Personalhäuser läge dieses Potenzial verborgen. Sie strebten eine Nutzfläche pro Person von 20 bis 22 Quadratmetern an. Da in den Türmen alles in Beton gegossen sei, brauche jede Veränderung Energie. Und um diese minimal zu halten, gehe es vor allem darum, sich an die vorgefundene Situation anzupassen. Mit Bestand umzugehen, bedeutet mit den eigenen Bedürfnissen umzugehen.
  • ZAS*: Was ist der kleinstmögliche Eingriff? Was sind die notwendigen, kleinen Veränderungen, die man machen muss? Keine neue Frage, aber relevant.

Diskussion

  • Die anschliessende Diskussion zwischen SCHARF, ZAS*, den teilnehmenden Teams und dem Publikum öffnete einen Vorstellungsraum für Schaffhausen: Was sind die Alternativen zum Abriss? Was kann die Stadt von den gezeigten Beispielen lernen?
  • Die Anwesenden waren sich einig, dass es zuallererst darum geht, verborgene Potenziale herauszuarbeiten.
  • Die Veranstaltung endet an der Bar. In Erinnerung bleiben lebendige Wortmeldungen:

«Veränderungen müssen organisiert werden.» … «Wir sind alle gegen den Abriss, aber wie kommunizieren wir das?» … «Der Triemli-Wettbewerb ist ein Plädoyer für den Ideenwettbewerb. Jetzt sollte ein Projektwettbewerb folgen.» … «Wir brauchen mehr zweistufige Verfahren». … «Wie schaffen wir möglichst viele Berührungspunkte mit den Gebäuden?» … «Die Qualität des Ideenwettbewerbs liegt in der Vielfalt.» … «Wir sollten zuerst über Potenziale diskutieren, nicht über Defizite.» … «Wir müssen von Berufs wegen nerven!» … «Uns fehlen Räume für soziale Experimente, für andere Formen des Zusammenlebens.» … «Wer traut sich, in die Türme zu investieren?» … «Die Stadtverwaltung müsste doch fiebrig sein?» … «Die Türme jetzt noch abzureissen wäre politischer Selbstmord.» … «Wir brauchen Architektur, aber wir brauchen vor allem Nutzungskonzepte». … «Unsere Lebensaufgabe: Menschen begeistern, Verständnis wecken, Mehrheiten gewinnen.» … «Wenn Gremien entscheiden, müssen die Ideen in die Gremien.» … «Wer kann weniger Wohnraum annehmen? Die Studierenden? Ältere Menschen? Flüchtlinge? Freiwillige vor.» … «Jede Gemeinde braucht einen Satz solcher Räume.» … «Wenn man im richtigen Moment interveniert, fallen die Sachzwänge in sich zusammen.» … «Demokratie braucht Wildheit.» … «Ohne die Teilnehmenden am Ideenwettbewerb wären wir [die ZAS*] nichts.»

Mehr zu ZAS*: https://arch.ethz.ch/en/news-und-veranstaltungen/news-kanal/2024/07/der-verein-zas-leitet-ab-herbst-ein-gaststudio-an-der-eth.html